Kapitel 120
Magnificent Mile, Chicago
Marcianus stieg auf die Betonsäule und nahm seine endgültige Position ein. Er ragte gut einen Meter über die Menge. Seine Samtrobe hatte er sich umgelegt und an der Taille mit dem weißen Cingulum festgebunden.
Als er auf die Menschenmassen hinabsah, klopfte sein Herz wie rasend. Zum ersten Mal in der Geschichte standen sie im Licht der Öffentlichkeit. Ihr neuer Tempel war der offene Raum.
Die Bruderschaft war endlich nach langer Zeit im Tageslicht sichtbar.
Am anderen Ende des Platzes tauchten die religiösen Würdenträger auf. Die Führer der sündigen Religion strömten auf die Plaza, umgeben von ihren seelenlosen Gefolgsleuten. Genau zum richtigen Zeitpunkt. Marcianus konnte deutlich den Gouverneur und einige Schritte hinter ihm Reverend Packard sehen. Die zwei Mitglieder der Bruderschaft in der Prozession, die dafür gesorgt hatten, dass diese zustande kam. Beide hatten Taschen in der Hand, in die sie nun hineingriffen. Gleich würden sie genauso gekleidet sein wie ihre Mitbrüder.
Marcianus hob den Lautsprecher hoch und schaltete ihn ein. Mit einem Gefühl der Macht faltete er das Blatt Papier auseinander, auf dem die kostbaren Worte geschrieben standen. In der Menschenmenge fingen alle Brüder an, das Gleiche zu tun.
Die seltsamen Handlungen von so vielen Paradeteilnehmern zogen inzwischen die Aufmerksamkeit anderer in der Menschenmenge auf sich. Dunkle Samtroben waren nun wie Tupfer auf dem gesamten Platz verteilt. Kleine Kinder, die noch Sekunden zuvor von den Umzugswagen und Tänzern fasziniert gewesen waren, deuteten nun fragend auf all die Leute um sie herum, die so komische Gewänder trugen. Eine Marschkapelle, die perfekt synchron gespielt hatte, fing an auseinanderzufallen, als zuerst ihr Cheftrommler und dann ein Schüler nach dem anderen in ihren Reihen, von dem bizarren Anblick abgelenkt, aus dem Takt gerieten. Die Gesichter in der Menge zeigten unterschiedliche Gefühle: Einige waren amüsiert, weil sie meinten, es handle sich um eine unangekündigte zusätzliche Darbietung im morgendlichen Unterhaltungsprogramm. Andere zeigten sich zunehmend besorgt und unsicher, was sie von dieser eigenartigen Sache halten sollten.
Aber alle schienen sich genötigt zu fühlen, zu beobachten, was sich da tat. Tausende von Augen schauten auf die Fremden und folgten deren Blicken zu dem Mann auf dem Betonblock.
Marcianus sah auf sein Blatt, und dann warf er es in die Luft. Er hatte das Gebet hunderte Male während des Flugs gelesen. Jedes Wort hatte sich klar und deutlich in seinem Gedächtnis eingeprägt. Er benötigte den Text nicht, er musste es nur sprechen.
Er hob den Lautsprecher an den Mund. Mit dröhnender Stimme sprach er das uralte Gebet, und zahllose andere fielen mit ein.
»Oh Welt! Sieh nun, wir wollen euch unsere Geheimnisse offenbaren! Denn ihr seid unsere Brüder, die nun alles wissen sollen.
Denn wir sind das Wissen und die Unwissenheit.
Wir sind die Scham und die Freizügigkeit.
Wir sind schamlos und beschämt.
Wir sind die Stärke und die Furcht –
Wir sind der Krieg und der Friede: Gebt Acht!«