Kapitel 89

Koptisches Museum, Kairo

Emily stürmte hinter der Kartenvitrine hervor und richtete sich zu voller Größe auf. Die Leuchtpistole in Brusthöhe vor sich, marschierte sie durch den Türbogen und auf die Ansammlung von Männern um Arthur Bell zu. Michael sprang hinter ihr her und stellte sich dann neben sie.

»Legen Sie den Codex hin!«, befahl Emily. Ihre Stimme hatte Autorität und klang beherrschter und entschlossener, als sie erwartet hatte. »Ich verspreche Ihnen, ich werde nicht zögern zu schießen.«

Selbst in der Dunkelheit war zu erkennen, dass der Schreck den Männern ins Gesicht geschrieben stand. Bell, der am Ende des Tischs stand, wirbelte herum und kniff die Augen zusammen, um herauszufinden, wer das war.

»Sie!« Das Wort spuckte er geradezu heraus. Er war wirklich fassungslos. Die Handgranate, die er in die Höhle bei Nag Hammadi geworfen hatte, war hochgegangen. Er hatte zugesehen, wie das Felsgestein zerbarst und der einzige Ausgang vollkommen verschüttet wurde. Der Tod dieser Leute war für ihn gewiss gewesen.

»Wie zum Teufel …«

Dank eines Adrenalinschubs gelang es Emily, ihm einen boshaften Blick zuzuwerfen. Ihre Finger umklammerten die kleine Leuchtpistole. Selbst in der Anspannung des Augenblicks empfand sie Genugtuung darüber, dass er erkennen musste, es nicht geschafft zu haben, sie zu töten.

Bell reagierte darauf mit einem unverständlichen Fauchen. Emily und Michael drangen weiter in den Raum vor. Sie hielt die Leuchtpistole, die in der Dunkelheit des Museums auch für einen Revolver gehalten werden konnte, weiter im Anschlag. Ab und an schwenkte sie ihre Waffe kurz zwischen den Männern hin und her, doch ansonsten konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit, wie auch ihre Wut, auf Arthur Bell.

»Haben Sie denn kein Verantwortungsgefühl, kein Gefühl für Richtig oder Falsch?«, fragte sie und sah ihn an. »Die Geschichte bedeutet Ihnen nichts. Das Leben bedeutet Ihnen nichts!«

»Sie bedeuten uns alles«, entgegnete Bell ausweichend. »Deswegen sind wir hier.«

»Sie sind hier mit Blut an den Händen. Das ist das Einzige, was ich mit Gewissheit weiß.«

Bell sah ihr in die Augen, sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, aber hart. »Sie sind aufgebracht wegen Ihres Cousins. Sein Tod war ein unglücklicher Unfall.«

»Ein Unfall!«

»Das stimmt. Er ist auf meine Männer losgegangen. Sie hatten keine andere Wahl.«

Während er sprach, kämpfte Emily hart gegen den Wunsch an, den Abzug durchzudrücken und dem Mann ein sengendes Leuchtgeschoss ins Gesicht zu jagen. Sie spürte, wie Michael ihr beruhigend die Hand auf den Rücken legte.

»Atme«, flüsterte er aus dem Mundwinkel.

Sie gehorchte und schaffte es so, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren.

»Sie können einen Mord rechtfertigen, wie Sie wollen«, sagte sie schließlich. »Am Ende werden Sie dafür bezahlen.«

Emily kam ein paar Schritte näher und blickte dann Arthur Bell vom anderen Tischende aus an, wo der Übersetzer vor ihrem Auftauchen gearbeitet hatte. Als sie auf den aufgeschlagenen Codex und den steinernen Schlüssel hinabschaute, wurde ihre Atmung wieder gleichmäßiger.

»Sie haben keine Ahnung, was wir hier tun«, behauptete Bell hartnäckig.

Als der steinerne Schlüssel im flackernden Schein der Taschenlampen glitzerte, wurde ihr klar, wie es weitergehen würde.

Sie sah wieder in das grausame Gesicht des Mannes, der Arm mit der Waffe war ruhig. »Ich weiß Folgendes.« Ihre Stimme war jetzt ruhig und beherrscht. »Sie sind entschlossen, vor nichts haltzumachen – nicht einmal vor Mord –, um das zu kriegen, was Sie wollen.« Bell öffnete den Mund, aber Emily schnitt ihm mit einem Schwenk der Pistole das Wort ab. Sie streckte den Arm nach unten; ihre Hand glitt über den aufgeschlagenen Codex und ergriff den antiken steinernen Schlüssel. Sie wusste: Das, was sie nun tun musste, war verabscheuungswürdig. Aber sie wusste auch, es war das kleinere Übel. Die einzige wirkliche Option.

»Dieser Stein«, sagte sie, als sie aufblickte und Bell erneut in die Augen sah, »war der Grund für den Tod meines Cousins. Sein Blut klebt an Ihren Händen. Und als Ausdruck meiner Achtung für ihn werde ich dafür sorgen, dass Ihre Hände den Stein nie wieder anrühren.«

Bevor Bell begreifen konnte, was das bedeutete, ließ Emily ihren Arm mit aller Kraft niederfahren und schlug den steinernen Schlüssel gegen das Rippenblech an der Ecke des Vitrinentischs.

»Nein!«, schrie Bell mit panischer Miene, doch es war zu spät.

Als der gebrannte Ton, aus dem das handgemachte Objekt bestand, auf das Metall traf, ging der steinerne Schlüssel zu Bruch. Eine Staubwolke schoss Emily durch die Finger, als der uralte Gegenstand zerbarst, und ehe Bell noch seinen Aufschrei ganz beendet hatte, rasselten hundert Scherben auf den Boden.

»Sie Miststück!«, kreischte er. »Was haben Sie getan!?« Selbst in der kalten Finsternis war erkennbar, dass sich sein Gesicht rot gefärbt hatte; er war außer sich vor Zorn.

Emily holte Luft, um zu antworten, hielt dann aber abrupt inne, als sie spürte, wie Michaels Körper von hinten gegen ihre Schulter schlug und dann neben ihr zu Boden sank. Sie schaute einen Moment lang verwirrt auf ihn hinunter. Aber bevor sie sich noch umdrehen und nachsehen konnte, was seinen Sturz ausgelöst hatte, traf sie von hinten ein Schlag am Kopf. Als ihr die Sicht verschwamm, funkelte der dunkle Raum plötzlich in grellem weißen Licht. Sie merkte, dass sich ihr Griff um die Leuchtpistole lockerte, hörte undeutlich, wie diese klappernd auf den Boden fiel, und spürte, wie ihr die Knie nachgaben und ihr Körper umzufallen begann.

Als Emily mit ihrer vernebelten Sicht das seltsam schöne Muster des Parkettbodens näher kommen sah, hörte sie nur noch das Echo von Arthur Bells gequältem Schrei.

»Was haben Sie getan!?«

Dann der Aufprall, der Boden, der Schmerz, die Schwärze. Und danach – nichts.

Der verborgene Schlüssel
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