Kapitel 67

Westliche Wüste

Der Abstieg von der Höhle bis zum Sand am Fuß des Felshangs war mühsam. Emily und Michael hatten nach weiteren vierzig Minuten Arbeit genug Gestein wegbrechen können, dass ein Mensch durch das Loch in der Wand passte. Aber was sie auf der anderen Seite erwartete, war kein breiter Felsvorsprung, der einen leichten Ausstieg ermöglicht hätte. Es ging sofort steil abwärts, und so musste nun das Seil zum Einsatz kommen, das Chris in seinem Rucksack hatte.

Und Chris – das war ein Kapitel für sich. Der notdürftige Verband, der ihm von Michael an der Schulter angelegt worden war, hatte zwar die Blutung gestoppt, aber sein linker Arm war bei einem senkrechten Abstieg nicht zu gebrauchen.

»Zum Klettern taugst du nicht; das steht außer Frage«, stellte Michael unvermittelt fest und würgte so Chris’ automatischen Protest schon im Ansatz ab. Stattdessen schnitt sein Freund mit dem Militärmesser rund drei Meter von dem Seil ab und reichte das Stück Emily.

»Du hast gesagt, deine Zeit an der Kletterwand würde sich eines Tages bezahlt machen«, sagte Chris. »Schau mal, ob du daraus nicht ein Geschirr basteln kannst.«

Ein paar Minuten später hatte Emily das Seil um Oberschenkel und Taille von Chris geschlungen. Dann verknotete sie es fest und trat einen Schritt zurück.

»Und das wird halten?«, fragte Chris, als er auf ihr Werk hinabschaute.

»Das wird halten.« Michael befestigte ein Ende des längeren Seils an dem Geschirr, unmittelbar unter Chris’ Bauch.

»Wir seilen dich ab, so gut wir können. Aber denk dran: Wir haben hier oben keine weitere Ausrüstung, alles muss mit reiner Körperkraft geschehen. Also beeil dich.«

Chris lächelte; er war dankbar für die Emsigkeit und den Eifer seiner Freunde, ihm zu helfen. Aber er empfand auch Scham, da er der Einzige ihrer Gruppe war, der für die Bewältigung von Notsituationen wie dieser eine professionelle Ausbildung erhalten hatte, aber auch der Einzige, der verletzt war. Er brachte nun ihre gemeinsame Flucht in Gefahr.

Michael sah seinen Gesichtsausdruck und legte Chris eine Hand auf die gesunde Schulter. »Du kannst nichts dafür, wenn du von einem Schuss getroffen wirst, Chris.« Ihre Blicke trafen sich, und Chris nickte zum Dank.

Einen Augenblick danach war er draußen vor dem neuen Loch in der Höhlenwand. Er wurde zu einem Felsvorsprung hinabgelassen, der etwa acht Meter tiefer lag. Das Seil reichte nicht weiter, und so knotete Michael dessen oberes Ende um einen der Steinbrocken in der Höhle und wandte sich dann seiner Frau zu.

»Du und ich klettern ohne irgendwelche weitere Hilfe am Seil hinunter.«

Sie nickte zustimmend. »Das schaffe ich.«

»Ich warte, bis du unten bei Chris bist, und folge dann nach«, sagte Michael. Dann nahm er sie in die Arme und küsste sie fest und mit aller Kraft.

Als er die Umarmung löste, schaute er sie eindringlich an; sein Blick war warm und ermutigend. »Alles wird gutgehen. Und vergiss das hier nicht.« Er legte ihr den Rucksack um die Schultern und vergewisserte sich, dass ihr Skizzenbuch wohlbehalten darin steckte.

Emily holte tief Luft, schritt zu dem Loch in der Wand und hob einen Fuß hinaus ins Tageslicht.

Für den ersten Teil des Abstiegs benötigten sie nahezu eine volle Stunde. Nachdem sie es bis zum ersten Felsvorsprung geschafft und keine Möglichkeit gesehen hatten, das Seil in ganzer Länge von dem Stein in der Höhle zu lösen, kletterte Michael wieder ein Stück hoch und schnitt knapp fünf Meter von der Leine ab: Das würde ausreichen, um Chris etappenweise nach unten zu lassen. Er und Emily würden den Verletzten zu einem geeigneten Felsabsatz helfen, dann zu ihm hinunterklettern, durchschnaufen und anschließend mit der Prozedur von Neuem beginnen.

Das Stop-and-Go war langsam und kraftraubend, und die herabbrennende Sonne zehrte erneut ihre Energie auf. Aber die Methode funktionierte. Ohne dass sie beim Abstieg mehr als ein paar Worte miteinander wechseln mussten, erreichten sie – zwei Stunden nachdem Michael die Steinwand durchgebrochen hatte – wieder den Sand des Wüstenbodens.

Ein paar Minuten später saßen sie wieder in ihrem Mitsubishi Pajero. Jeder von ihnen hatte in seinem ganzen bisherigen Leben noch nie die Existenz von Klimaanlagen so sehr zu schätzen gewusst wie jetzt.

Es war Emily, die schließlich das Schweigen brach, während sie sich Staub und Schweiß vom Gesicht wischte.

»Wir haben es geschafft.«

Die beiden Männer sagten nichts. Man hatte sie mit vorgehaltener Waffe bedroht und in einer Höhle eingesperrt, doch abgesehen von Chris’ Verletzung und den paar Kratzern und Schrammen, die sie beim Abstieg an der Felswand abbekommen hatten, waren sie wohlauf und in Sicherheit.

Michael drehte den Schlüssel in der Zündung herum, und der Motor erwachte zum Leben. Nach einer scharfen Hundertachtzig-Grad-Wende vom Felshang weg fuhr er sie zurück in Richtung Stadt.

Als sie die geteerte Gizeh-Luxor-Road erreichten, beschleunigte Michael den Pajero auf neunzig Stundenkilometer und fuhr weiter Richtung Süden. Er gab einen stillen Seufzer der Erleichterung von sich, während er auf die sich vor ihm erstreckende Fahrbahn starrte: nach all den Stunden am Rande des Todes endlich ein Zeichen des zivilisierten Lebens. Noch größere Erleichterung empfand er bei dem Anblick von üppiger Vegetation zu seiner Linken – der prächtig gedeihenden Felder, hohen Dattelpalmen, Bewässerungskanäle und kleinen abgesteckten Weiden inmitten der grünen Landschaft.

»In ein paar Minuten sind wir wieder in Nag Hammadi«, bemerkte er zu Emily und Chris. Der Verletzte lag hinten ausgestreckt auf der Rückbank. »Wir können von da aus weiter Richtung Norden fahren. Wie sehen jetzt eigentlich unsere Pläne aus?«

»Wir brauchen eine kleine Auszeit«, antwortete Emily. »Chris muss sich die Wunde auswaschen und fachgerecht verbinden lassen. Dein provisorischer Verband hat die Blutung gestoppt, aber die Wunde muss gesäubert werden, wenn er eine Infektion vermeiden will. Wenn wir das selbst machen, sparen wir uns viele Stunden im Krankenhaus – ganz zu schweigen von der Zeit, die wir bei der Polizei verbringen müssten, die man bei einer Schussverletzung informieren würde.« Sie sah zu Michael hinüber. »Und ich muss ein bisschen online recherchieren – sehen, was ich tun kann, um zwischen der Inschrift auf dem steinernen Schlüssel und den in Nag Hammadi gefundenen Texten eine Verbindung zu finden. Bevor wir nicht eine genauere Vorstellung haben, was Bell und seine Gruppe mit diesen Dokumenten vorhaben, wird es schwierig sein, unseren nächsten Schritt zu planen.«

Bei ihrer früheren Fahrt durch Nag Hammadi hatte Michael genug gesehen, um zu wissen, dass sie dort kein für sie geeignetes Hotel finden würden. Die größere Stadt Assiut lag jedoch nur zwei Stunden flussabwärts.

Er drückte den Fuß aufs Gaspedal, und das Trio fuhr schweigend weiter in nordnordöstlicher Richtung.

Der verborgene Schlüssel
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