Kapitel 108
Auf dem Flug zwischen Kairo und Chicago
»Entspann dich, Mike.« Emily lächelte tröstend. »Besorg dir noch einen Drink. Sie bringen dir einen nach dem anderen, solange du darum bittest.«
Sie und Michael hatten es sich nebeneinander in ihren Sitzen in der Business Class des EgyptAir-Flugs 9231 vor gut vier Stunden bequem gemacht, und obwohl der Flug seit dem Start ruhig verlaufen war, hatte keiner von ihnen beiden auch nur ein Auge zubekommen.
Michael befolgte ihren Rat und bestellte sich einen weiteren doppelten Gin Tonic. Seine verbundene linke Hand, die in Brusthöhe in einer eng sitzenden Schlinge lag, pochte unablässig vor Schmerzen, die nur leicht von dem verschriebenen Analgetikum gedämpft wurden, das er in der halben Dosis geschluckt hatte.
»Was ist los?«, fragte Emily, als sie sah, wie er zusammenzuckte. »Erzähl mir nicht, du hast auf einmal Flugangst.«
»Nein«, erwiderte er mit einem schwachen Lächeln. »Es ist nicht der Flug, Em. Es ist nicht mal das.« Er deutete auf seine verletzte Hand. »Es ist Kairo. Mir geht mein Gespräch mit Chris nicht aus dem Kopf.«
Das unbefriedigende Ende ihres Kampfes im Museum beschäftigte Michael immer noch. Sie waren nicht imstande gewesen, den flüchtenden Marcianus aufzuhalten; sie waren nicht imstande gewesen, den gestohlenen Text zurückzuholen. Und vor allem hatte das plötzliche Ende der Gefahr, von dem er durch den Anruf von Chris erfuhr, Michael auf dem falschen Fuß erwischt.
»Was macht dir denn immer noch Sorgen?«
»Sie haben die Bombe gefunden, das ist schön und gut«, antwortete Michael. »Aber die Einzelheiten von Chris’ Schilderungen sind beunruhigend.«
Emily schob ihr linkes Bein unter das rechte und drehte sich ganz zu Michael hin.
»Was im Speziellen?«
»Es ist die Beschreibung der Bombe. Erinnerst du dich an die Details?«
»Sprengstoff, umgeben von Metallsplittern. Eine hässliche Sache.«
»Hässlich, ja. Aber so schrecklich es sich anhört, es klingt einfach nicht … richtig.«
»Richtig?« Emily zögerte. »Was könnte an der Waffe von Terroristen denn noch ›richtiger‹ sein?«
Michael strich sich mit den Fingern durch die Haare, während er seine Gedanken zu ordnen versuchte. Dann ging er plötzlich ohne jede Vorwarnung zu einem völlig anderen Thema über. »Du hast das Gebet mit mir zusammen gehört, nicht wahr? Als wir gefesselt waren und Bell es laut vorzulesen begann?«
»Sein ›Befreiungsgebet‹? Ja klar.«
»Kannst du dich an den Text genau erinnern?«, fragte Michael.
Emily nickte bloß.
»Dann muss ich, so leid es mir auch tut, die Bitte eines Wahnsinnigen wiederholen, Em«, fuhr Michael fort. »Aber ich brauche dein Gedächtnis.« Er griff in seine Reisetasche und reichte ihr einen Augenblick später Papier und Stift. »Du musst mir jedes Wort, das du gehört hast, aufschreiben.«
Emily gab Michael fünf Minuten später das Blatt Papier zurück, auf dem nun die Anfangszeilen des »Befreiungsgebets« standen, das Bell alias Marcianus laut vorgelesen hatte, nachdem es auf den Seiten des antiken Nag-Hammadi-Codex zum Vorschein gekommen war.
»Das ist alles, an was ich mich erinnern kann«, sagte sie. »Ich denke, es ist wohl recht nah am Original, wenn wir mal davon ausgehen, dass der Übersetzer exakt gearbeitet hat.« Das Ereignis hatte sich ihr mit drastischer Deutlichkeit ins Gedächtnis gebrannt.
Michael schnappte sich das Blatt und begann über jede Zeile nachzugrübeln. Emily beobachtete, wie seine Augen größer und dann wieder schmal wurden, während er sich den Text Satz für Satz immer wieder durchlas.
»Komm schon, Mike, was ist los?«, wollte sie schließlich wissen.
Michael blickte nicht hoch, als er sprach. »Ich bin mir nicht sicher, aber die Angaben, die Chris uns mitteilte, und so, wie ich den Text lese … Ich habe einfach nicht das Gefühl, dass beides zusammenpasst.«
Emily konnte ihn nur weiter erwartungsvoll anschauen.
»Hier ist es!«, platzte Michael unvermittelt heraus. Er legte das Blatt auf das Getränketablett zwischen ihren Sitzen und deutete auf einen Abschnitt von Emilys Niederschrift. »Lies mir das bitte laut vor.«
Emily beugte sich über das Papier und tat, wie geheißen.
»Die Unwissenheit brachte Furcht und Schrecken,
Und die Furcht wurde zu einem dichten Nebel, sodass niemand mehr sehen konnte.
Aus diesem Grunde kam die Täuschung zur Macht.«
Sie schaute Michael an, ihr Gesicht ein einziges Fragezeichen. »Ich verstehe das nicht. Der Text ist im Ton mystisch, hat aber überhaupt nichts mit einer Bombe zu tun.«
»Lies einfach weiter.« Michael wies auf den Text.
»Doch die Wahrheit wird ein großartiges neues Licht hervorbringen,
Und wie der Nebel den Himmel füllt, wird unser Feuer die Luft versengen
Und die Lungen, die Augen und das Herz –
Jeder Atemzug der Tod und die Pforte zum Leben!«
»Da!«, rief Michael. »Siehst du es?«
Sie sah es nicht, ihre Miene machte das in aller Klarheit deutlich.
»Konzentrier dich auf die Bilder, Em. Das Gebet beschreibt ein großes kataklysmisches Ereignis, genau wie Bell andeutete. Das Hervorbringen eines großartigen Lichts. Das könnte sich gut auf eine Bombe beziehen.«
»In Ordnung«, stimmte Emily ihm zögernd zu. »Ich kann es sehen. Bis dahin kann ich dir folgen.«
»Aber hör dir an, wie der Text die Wirkung dieses Lichts beschreibt: Feuer wird ›die Luft versengen und die Lungen, die Augen und das Herz. Jeder Atemzug der Tod und die Pforte zum Leben.‹ Sag, Em, klingt das für dich wie die Wirkung von einer explodierenden Splitterbombe?«
Sie zögerte. »Nein. Da würde ich Bilder von einem Gemetzel, von offenem Fleisch, abgerissenen Gliedern erwarten.«
»Genau, aber hier haben wir ein völlig anderes Bild. Das Gebet spricht von Atem, Nebel und Wind. Das klingt eher nach einem Gift oder einem Gas.«
Emily schaute wieder auf ihre Aufzeichnung des Befreiungsgebets. Die Zeilen, die etwas weiter unten folgten, waren eine Bestätigung für Michaels Argumention.
»Unser Licht wird brennen wie Feuer und über den Atem weitergetragen werden!
Jedes Inhalieren ein Keuchen befreiender Trennung.«
»Dieser Marcianus und seine Gruppe sind davon besessen, ihre Interpretation dieses antiken Mantras zum Leben zu erwecken«, vermutete Michael, als sie mit dem Vorlesen fertig war. »Ich nehme an, dessen Verfasser haben niemals etwas Derartiges beabsichtigt, was er plant, trotzdem ist dieser Text für ihn eine Gebrauchsanweisung. Wenn seine Gefolgsleute vorhatten, in Chicago eine Apparatur hochgehen zu lassen, die dieser Symbolik entspricht – wie hätte das mit einer Bombe erreicht werden können, die vollkommen anders funktioniert?«
Nun brauchte Emily einen Drink. Sie griff hinüber zu Michaels Tablett, nahm das Glas mit dem Rest seines Gin Tonics und stürzte ihn in einem Zug hinunter.
»Und dann«, fügte Michael hinzu, nun in einem anderen Tonfall, »war da noch der Abschiedsblick, mit dem mich einer von Bells Männern in Kairo bedacht hat. Gerade als wir das Museum verließen.«
»Er hat auch etwas zu dir gesagt?«
»Nein, es geht nicht um irgendwelche Worte. Es war nur sein Gesichtsausdruck. Ich hatte ganz in seiner Nähe mit Chris telefoniert; er muss das Gespräch mit angehört haben.«
»Und?«
»Und er sah … zufrieden aus.« Michael erinnerte sich so kristallklar an die Miene des Mannes, als hätte er Emilys eidetisches Gedächtnis. »Und dann wirkte er beinahe glücklich.«
Auf einmal fügte sich in Michaels Kopf alles zu einem Bild zusammen. Seine Haut wurde klamm, und seine Hand grub sich in die Armlehne, als er sich Emily zuwandte.
»Em, ich glaube nicht, dass die Bombe, die sie in Chicago entdeckt haben, überhaupt die richtige Bombe ist.«
»Chris schien zu glauben, dass sie durchaus die richtige war«, widersprach sie schwach.
»Nein«, entgegnete Michael, »das kann sie nicht gewesen sein. Diese Bombe wäre die Hölle gewesen, aber was Bell wirklich plant, ist … ist …«
Er verstummte. Die Worte auf dem Blatt begannen sich in seinem Kopf zu Bildern zu formen. Feuer, das die Luft versengt. Die Lungen und das Herz verbrennen. Jeder Atemzug der Tod. Jedes Inhalieren also ein Ringen nach Luft.
Er packte über die Armlehne hinweg Emilys Hand und drückte sie fest, sein Gesicht war leichenblass.
»Ich weiß genau, was er vorhat.«