Kapitel 48

Offene Wüste, Ägypten

Der Marsch über das unebene Terrain am Fuß des Berghangs war mörderisch. Die Distanz zwischen dem SUV und dem Beginn der Anhöhe aus blankem Gestein schien zwar nicht groß zu sein, aber sie stiegen dabei ständig über Felsbrocken, die aus dem Untergrund ragten und recht steil waren, sodass die Füße keinen sicheren Halt fanden. Zweimal mussten sie eine Pause einlegen, um durchzuschnaufen und aus den Wasserflaschen zu trinken, die in den Rucksäcken verstaut waren. Als sie schließlich, nach einem viertelstündigen Marsch in der gleißenden Sonne, in den Schatten traten, den die Spalte in der riesengroßen Felswand ihnen bot, stießen Emily, Michael und Chris einen kollektiven Seufzer der Erleichterung aus.

Es war jedoch eine Erleichterung, die genauso schnell verflog, wie sie gekommen war.

»Mehr Wasser!«, befahl Chris. Er drängte Emily eine Flasche auf und gab Michael mit einer Geste zu verstehen, dass er ebenfalls ganz austrinken sollte. Beide gehorchten. Die Erschöpfung infolge des Fußmarsches forderte doch einen höheren Tribut, als sie gedacht hatten. Die Hitze verbrannte gnadenlos ihre Energie.

Chris war nicht so erschöpft. Da sein Körper durchtrainierter war, musste er sich nicht ausschließlich darauf konzentrieren, für seine Füße einen sicheren Halt zu finden und die Kraft zum Klettern und Wandern aufzubringen. Und weil seine Aufmerksamkeit auch auf die Umgebung gerichtet war, hatte ihn in der letzten halben Stunde eine ganz bestimmte Sorge zunehmend beschäftigt.

»Ich bin nicht sicher, ob das einer von euch beiden hören will«, sagte er schließlich. »Aber ich seh da oben absolut nichts.«

Er deutete nach oben auf die relative Schwärze, die von dem großen Einschnitt im Fels verursacht wurde. Die Spalte, in deren Schatten sie standen, verlief durch den Sandstein etwa fünfzehn bis zwanzig Meter senkrecht nach oben und bildete ein umgekehrtes »V« im Gestein.

Michael studierte das felsige Gelände genau. Er wollte es nicht zugeben, aber er konnte ebenfalls nichts erkennen. Die Rinnen im Gestein, die vom Sonnenlicht nicht erreicht wurden, wiesen kleinere Furchen und Ausbuchtungen auf, sahen aber ansonsten genauso aus wie die Oberfläche des gesamten Steilhangs. Die Spalte vor ihnen war genauso unwirtlich wie der Rest der Umgebung.

Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, der noch niederdrückender war als seine Erschöpfung. Es könnte durchaus möglich sein, dass hier überhaupt nichts war. Die Karte könnte ein Scherz sein. Oder sie könnte schlicht falsch sein. Womöglich gab es gar keinen steinernen Schlüssel. Und bei diesen Überlegungen wurde Michael eine noch verstörendere Tatsache bewusst: dass ihn nichts davon sosehr beunruhigte wie der Gedanke, was diese Erkenntnis mit Emily anstellen würde.

»Vielleicht haben wir ja den Standort nicht ganz richtig lokalisiert und müssen unsere Position ein wenig verändern«, mutmaßte er schließlich. »Vergesst nicht, die Karte ist handgezeichnet. Wir können, was den Maßstab anbelangt, nicht wirklich sicher sein.« Er versuchte, seiner Stimme einen optimistischen Ton zu geben.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Emily sagte nichts.

Schließlich gab Chris einen verärgerten und genervten Seufzer von sich. »Fakt ist, die Karte ist verdammt alt und möglicherweise völlig ungenau. Vielleicht haben wir uns da zu viel erhofft.«

Falls das »X« auf der Karte die Stelle nicht wirklich markierte, dann konnte der verborgene Schlüssel überall sein: Es gab so unglaublich viele Möglichkeiten, dass sie vielleicht nie in der Lage sein würden, das Gesuchte zu finden.

»Das ist doch Scheiße!«, rief Chris einen Augenblick später, seine Frustration war offensichtlich. »Sind wir überhaupt sicher, dass das hier der richtige Steilhang ist?«

Michael wandte ihm das Gesicht zu und versuchte, ihm mit einem durchdringenden Blick seinen leidenschaftlichen Wunsch zu übermitteln, er möge seine Befürchtungen ab sofort für sich behalten.

»Komm schon, Chris. Wo sind denn deine Flachsereien und dein Optimismus geblieben? Bis jetzt hast du doch immer für eine positive Stimmung gesorgt.«

»Es ist heiß. Und ich werde stinkig, wenn es heiß ist …« Dann, mitten in seinem Gejammer, kapierte Chris endlich, was Michael ihm zu verstehen geben wollte, und bemerkte dessen flehentlichen Blick. Und ihm fiel auf, dass Emily in den vergangenen Minuten kein einziges Wort von sich gegeben hatte.

»Die Wüste sieht aus dem Fond eines Autos um einiges besser aus«, fügte Chris hinzu, wobei er jeden entmutigten Ton zu vermeiden versuchte. »Aber du hast vermutlich recht. Ich bin sicher, wir werden es herausfinden.« Er spürte, dass seine Sätze nicht überzeugend waren.

»Ihr beide könnt aufhören, wegen mir so vorsichtig daherzureden«, erklärte Emily, die endlich ihr Schweigen brach. Sie wandte den Blick nicht von der Felsspalte. »Meint ihr, mir wäre nicht klar, wie düster es aussieht? Meint ihr, ich säße nicht lieber bequem zu Hause, anstatt hier meinen BH durchzuschwitzen und meine Augen von der Sonne versengen zu lassen?«

Die zwei Männer schwiegen lange Zeit angespannt.

»Es tut mir leid, Emily«, sagte Michael schließlich. »Es ist nur so, dass unsere Aussichten hier wirklich düster sind. Das musst du zugeben.«

»Warte noch ein paar Minuten, bevor du aufgibst«, entgegnete Emily. Endlich wandte sie den Blick vom Felsgestein und drehte sich den beiden Männern zu. »Michael, kannst du dich noch daran erinnern, wie Andrew immer die Landschaft förmlich in sich aufsaugte, wenn wir mit ihm auf Reisen waren?«

Michael, der über die Frage überrascht war, nickte zögernd. »Wie ein Junge, der alles zum ersten Mal sieht. Immer fasziniert.«

»Immer fasziniert«, bestätigte Emily. »Und das hier – das ist ziemlich faszinierend.« Sie deutete auf die Umgebung, und ihre Augen funkelten: die weite Wüste hinter ihnen, der uralte Steilhang vor ihnen. Licht und Dunkelheit – sie umspielten die Unebenheiten des orangefarbenen Gesteins. »Sehen wir uns also doch einfach nur mal einen Moment lang um. Um fasziniert zu sein. Wir sehen das hier immerhin zum ersten Mal.«

Emilys plötzliche Gefühlsseligkeit war überraschend, doch die beiden Männer willigten ein. Während Chris den Hang prüfend anschaute, schienen die Hitze und der Frust von ihm abzufallen. Das war, musste er einräumen, die atemberaubendste Landschaft, die er seit Langem gesehen hatte.

Es war Michael, dem schließlich neben der Schönheit der Landschaft vor ihnen noch etwas ins Auge sprang.

»Was ist das?«, fragte er und hob einen Arm; den Zeigefinger hatte er ausgestreckt.

Emily und Chris folgten der Richtung seines Fingers, der auf den Steilhang wies.

»Schaut genau dorthin«, wies Michael sie an. »Dort, wo diese Felsspalte im Schatten dunkler wird.«

»Ich sehe gar nichts«, erwiderte Emily. Chris’ frustrierter Blick drückte das Gleiche aus.

»Schaut genau hin. Etwas links von der mittleren Linie. Richtet euer Augenmerk auf diese Stelle. Was seht ihr da?«

»Es ist dunkel, wie der Rest.« Emily kniff angestrengt die Augen zusammen, um etwas zu erkennen.

»Nein«, widersprach Michael. »Es ist dunkel, aber nicht in gleicher Weise wie der Rest.«

»Gut, da ist es dunkler. Fast schwarz.«

Es war Chris, der endlich begriff, was er dort sah. »Eine Höhle!«, rief er aufgeregt. »Es ist der Eingang zu einer Höhle.«

Michael nickte lächelnd. »Genau. Und wenn ich mich nicht irre, befindet sich der Eingang exakt an der Stelle, die auf dem Dokument markiert ist.«

Der verborgene Schlüssel
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