Kapitel 84
Koptisches Museum, Kairo
Nach zwei Dritteln des Weges auf der mit Schnitzereien verzierten Holztreppe verrieten Geräusche aus einem Saal vor ihnen, wo die anderen sich befanden. Emily hielt inne, als die ersten Stimmen durch die Weite des dunklen Raums hallten, und Michael tat das Gleiche.
»Vor uns, dort«, wisperte sie und deutete in die Richtung. Sie war bereits in höchste Aufregung versetzt: Als sie und Michael am Fuß der Treppe den reglosen Körper eines toten Wachmanns entdeckt hatten, war ihr Adrenalinspiegel nach oben geschossen. Bells Männer waren nicht nur hier, sie gingen auch erneut über Leichen. Emilys Entschlossenheit nahm noch zu, als ihr klar wurde, dass Andrew keine Ausnahme gewesen war. Er war für diese Leute schlicht nur eine Leiche mehr gewesen, die sie auf ihrem Weg zurückgelassen hatten.
»In dieser Richtung ist Saal 10«, flüsterte Michael ihr ins Ohr.
Sie nickte, etwaige Zweifel an ihrer Vorgehensweise waren schon lang verschwunden. »Was ist da sonst noch drin?«, fragte sie in der Hoffnung, dass sich dort ein großes Objekt befand – irgendetwas, hinter dem sie sich beim Betreten des Raums vor dieser Gruppe, die Bell um sich geschart hatte, verstecken könnten.
»Nur Manuskripte«, antwortete Michael. »Die Nag-Hammadi-Bibliothek und der Koptische Psalter.« Der weltweit größte Fund an koptischen Texten neben dem weltweit ältesten erhaltenen Codex. Die Gegenstände in dem Saal waren von unschätzbarem Wert.
»Wie sehen die Vitrinen aus?«, hakte Emily nach. »Größenmäßig?«
»Größenmäßig?«
»Sind da einige so groß, dass wir uns dahinter verstecken können?«
»Nicht mal annähernd.«
»Dann nehmen wir diesen Weg.« Sie zeigte auf den angrenzenden Ausstellungsraum. Er hatte zum Flur hin einen separaten Eingang, doch die beiden Säle waren durch einen Torbogen in der Wand miteinander verbunden. Sie konnte nur hoffen, dass die Vitrinen und Artefakte im zweiten Raum ihnen ein Versteck bieten würden. Es war unumgänglich, dass sie sich mit Bells Männern auseinandersetzen mussten, aber sie wollte sich den Schauplatz zunächst gründlich ansehen.
Sie gingen auf Zehenspitzen über den Parkettboden, vorbei am offenen Eingang von Saal 10 und durch die nächste Tür.
Saal 11 enthielt Keramik, Textilien und Objekte des Alltags. Der Saal wies, wie sich herausstellte, genau das auf, was Emily brauchte: In großen Vitrinen befanden sich Objekte aus Stein, Ton und Stoff – eine breite Vielfalt an Alltagsgegenständen aus einer lang vergangenen Zeit, manche größer als sie selbst. In der linken Wand war der Durchgang zu Saal 10, aus dem die schwachen Lichter und Geräusche von Bells Gruppe herüberdrangen.
»Da drüben«, flüsterte Michael, als er an Emily vorbeiging und die Führung übernahm. Er dirigierte sie zu einem hohen Kasten, der eine historische Landkarte des nachpharaonischen Oberägyptens sowie kleine Artefakte enthielt, die als Belege für die wichtigsten landwirtschaftlichen Methoden der auf der Karte wiedergegebenen Regionen dienten. Die Vitrine war so groß, dass sie sich beide hinter ihr niederkauern konnten, und stand genau gegenüber dem Torbogen zu dem angrenzenden Saal.
Der ideale Platz, um etwas zu sehen, ohne gesehen zu werden.