Kapitel 29

Britisches Museum, London

»Weißt du, was das bedeutet?« Emilys tiefblaue Augen brachten eine neue seelische Befindlichkeit zum Ausdruck, als sie das sagte. Die Trauer und der Schmerz waren zwar nach wie vor da und unvermindert heftig, doch darunter mischten sich nun auch Spuren einer Entschlossenheit, die sie mit neuerwachtem Leben erfüllte.

»Was das bedeutet?« Michael wandte endlich den Blick vom Monitor des Scanners ab. Er war sicher, dass die Dimensionen ihrer Entdeckung bemerkenswert waren, aber die Wichtigkeit einer Sache und ihre konkrete Bedeutung waren zwei ganz verschiedene Dinge.

»Abgesehen von der Entdeckung eines Manuskripts, das auf den Nag-Hammadi-Fund verweist – und zwar Jahrhunderte früher, als den Gelehrten bekannt war?«

»Abgesehen davon.« Emily wischte beiseite, was gut und gerne einer der wichtigsten Funde in der beruflichen Laufbahn eines Wissenschaftlers sein könnte. »Es bedeutet, dass wir eine Spur haben. Eine Spur zu Andrews Mörder.« Sie ergriff mit kräftiger Hand Michaels Unterarm. »Die einzige Spur.«

Er blickte ihr lange ins Gesicht, da er plötzlich den eigentlichen Grund für ihre Aufregung erkannte. Das war kein gelehrtes Erstaunen über einen bedeutsamen Fund. Emily kämpfte darum, wirklich alles zu erhaschen, das ihre Trauer leichter machen würde.

»Em, das beweist lediglich, dass die Diebe, die ihn umbrachten, nicht so unfähig waren, wie wir dachten. Sie wussten, dass sie nach etwas suchten, das mehr war, als es zu sein schien.« Er griff nach ihr in dem Wissen, dass seine Worte ihren Kummer nur noch vergrößern würden. »Diese Entdeckung bringt uns den Männern, die das taten, keinen Schritt näher.«

»Doch, das tut es sehr wohl.« Emily merkte, wie sie sich immer mehr darüber ärgerte, dass er das neu entdeckte Material nicht als das ansah, was es tatsächlich war. »Sie sagten, die Karte wäre die letzte Sache, die sie noch brauchten, um den steinernen Schlüssel zu finden. Wir wissen jetzt, dass die Karte den Weg zu diesem steinernen Schlüssel weist, was immer das auch sein mag. Wir wissen, wonach sie suchen und wo es sich befindet.«

»Emily, das führt doch immer noch zu nichts.«

»Verdammt noch mal, das tut es sehr wohl!«, schoss sie zurück. »Es bedeutet, wir wissen, wohin sie gehen werden!«

Ihr Gesicht war rot angelaufen, und Michael sah darin Wut und Enttäuschung. Er hatte gedacht, wenn er Emily helfen würde, die Karte zu enthüllen, könnte das etwas Licht auf ihre Situation werfen, doch seine Besorgnis darüber, wohin das alles führen würde, wuchs allmählich. Wenn Emilys größte wissenschaftliche Stärke ihr nie enden wollender Elan war, so konnte diese Eigenschaft doch auch ihr größter psyhischer Nachteil sein. Sie war keine Frau, die wusste, wie man aufgab, wie man einen Tiefschlag hinnahm – vor allem einen sinnlosen und schrecklichen wie ein Verbrechen, an dem sie nichts ändern konnte.

Michael war eines klar: Wenn er seine eigene Enttäuschung zeigte, würde dies die Situation nur noch verschlimmern. Deshalb zwang er sich dazu, mit ruhigem Verstand zu sprechen.

»Allein die Tatsache, dass wir den Teil des Dokuments besitzen, der den Endpunkt der Reise verrät, macht es schon unmöglich, sie zu verfolgen, Em, falls es das ist, worauf du hinauswillst. Was immer dieser ›steinerne Schlüssel‹ auch sein mag, diese Männer haben anscheinend keine Ahnung, wo er sich befindet. Schau nur, wie weit zu gehen sie bereit waren, um in den Besitz der Karte zu gelangen. Einbruch. Mord!«

Emily wollte ihm schon frustriert etwas entgegenschleudern, beherrschte sich jedoch. Michael hatte recht, der Gedanke war ihr auch schon gekommen. Doch seine Worte lenkten sie in eine andere Richtung. Keine Verfolgung. Ein Präventivmanöver.

»Sie haben die Karte nicht – aber wir haben sie«, hob sie hervor. »Und das heißt, nur wir kennen den Aufenthaltsort des Objekts, für dessen Erlangung sie bereits getötet haben. Ohne diese Karte …«, sie deutete auf das Manuskript, »… fahren sie nicht nach Ägypten.« Dann kam das Unausweichliche. »Aber wir.«

»Emily, was du da vorschlägst, ist lächerlich«, antwortete Michael, nachdem er den Schreck über Emilys Vorschlag etwas verdaut hatte. »Ich weiß, du bist aufgebracht, aber was zum Teufel ist damit gewonnen, wenn wir nach Ägypten fahren wegen … wegen dem, auf was auch immer die Karte hinweist?«

»Erzähl mir jetzt nichts von wegen sinnlos!«, blaffte sie. »Ein junger Mann wurde in unserem Haus ermordet – das ist sinnlos! Aber diese Kerle, die ihn umbrachten, taten das aus einem ganz besonderen Grund: um diesen steinernen Schlüssel zu finden.« Sie zeigte auf die koptische Inschrift im letzten Kästchen der Karte, die noch immer auf dem Monitor flimmerte. »Jetzt haben wir beide die Karte, von der wir annehmen können, dass sie als einzige auf der Welt die Lagebeschreibung enthält, die auf das hinweist, was diese Männer haben wollen. Eine bessere Möglichkeit, die beiden zu finden, gibt es nicht.«

»Aber wie, Em? Um Himmels willen, wir wissen doch nicht einmal, ob das alles real ist.«

»Es ist so real, dass dieser Arthur Bell, wer immer das auch sein mag, bereit war, bis zum Äußersten zu gehen, um die Karte in die Finger zu kriegen, Michael!« Emily versuchte nicht mehr länger, ihre Gereiztheit zu verbergen; ihre laute Stimme hallte von der metallenen Laborausstattung wider.

»Aber ich hab dir doch schon gesagt, ohne diese Seite weiß der Mann nicht, wohin er gehen soll.«

»Irgendetwas sagt mir, dass er nicht aufhören wird, danach zu suchen!« Emily schrie nun. »Denk doch mal nach! Er ist besessen von diesem Ding, schreibt dir ins Büro wegen irgendwelcher Hinweise, die eure Sammlung liefern könnte – wie oft hat er dir geschrieben?«

Michael zögerte kurz. »Fünf, vielleicht sechs Mal.«

»Sechs Mal! Dann erfährt er irgendwie von diesem Manuskript und bekommt heraus, dass die CUA es gekauft hat und ich es in meiner Obhut habe. Er findet heraus, wo wir leben. Lässt Männer einbrechen und es stehlen, und das um jeden Preis.«

»Emily, lass dir doch nicht von deiner Wut dein logisches …«

»Er wird weiter danach suchen, Michael!« Emily schlug mit der Faust auf die Arbeitsplatte aus Aluminium, dass es durch den ganzen Raum schallte. »Er wird weiter danach suchen, bis er eine Möglichkeit sieht, an diesen steinernen Schlüssel zu gelangen.«

»Und?« Michael hatte die Stimme nun ebenfalls erhoben. »Und was dann? Wohin führt uns das?«

Emily starrte ihn bohrend an. »Nach Ägypten. Zu dem ›X‹ auf der Karte. Zu dem steinernen Schlüssel, den Arthur Bell haben will.« Sie holte ein paarmal tief Luft, um das Gesagte etwas einsinken zu lassen, dann sprach sie voller Entschlossenheit weiter. »Wir holen uns, was er haben will. Und anschließend lassen wir ihn zu uns kommen.«

Der verborgene Schlüssel
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