Kapitel 41

Ma’adi, am Rand von Kairo

Vierzig Minuten nach der Landung ihres Fliegers saßen Michael, Emily und Chris in einem gemieteten Mitsubishi Pajero und fuhren durch das Zentrum von Kairo Richtung Süden. Michael und Chris waren schließlich übereingekommen, ihre Unterhaltung zu beenden und ein bisschen zu ruhen, und die knapp vier Stunden Schlaf hatten ihre Akkus wieder aufgeladen. Ein Nickerchen in der Economy Class und das Essen im Flugzeug waren nicht das beste Gegenmittel bei adrenalininduzierter Erschöpfung, aber ganz schlecht waren sie auch nicht.

Emily hatte während des Flugs überraschend friedlich geschlummert. Sie hatte zunächst befürchtet, sie bekäme Albträume, die sie nicht würde ertragen können: Bilder von Andrews Lächeln; die in ihrem Gedächtnis widerhallenden Schüsse; das Blut auf dem Boden; der faltig Leichensack, dessen Ausbuchtungen die Konturen des Leichnams ihres Cousins anzeigten. Wie er so stolz, so jungenhaft eitel auf die Fürsorge gewesen war, die er seinem Körper angedeihen ließ …

Aber ihr Schlaf war ruhig gewesen. Vielleicht war ihr Kopf, genau wie ihr Körper, schlicht zu müde gewesen, um weitermachen zu können. Er hatte abgeschaltet, und der Schlaf war eine willkommene Ruhepause von all den Gedanken und Erinnerungen gewesen. Sie war aufgewacht, als das Frühstück vom Seitengang aus serviert wurde, und hatte voller Freude festgestellt, dass auch Michael und Chris nicht den ganzen Flug ohne jede Erholung zugebracht hatten.

Zwanzig Minuten nach der Übergabe des Mietwagens und einer Fahrt auf den ägyptischen Straßen hatte das Trio den äußeren Ring erreicht, der die riesige Großstadt umgab, und um 6.15 Uhr waren sie an der südlichen Stadtgrenze angelangt. Michael saß am Steuer. An der Stelle, wo die Ring Road auf die Mehwar Al Moneeb traf, fuhr er ab, weil, wie Chris mit Nachdruck erklärte, zunächst ein lebenswichtiger Schritt angesagt war: ein Versorgungsstopp. Schon seit der Abfahrt hatte er von der Rückbank aus nach einer derartigen Gelegenheit Ausschau gehalten. Nun kamen sie zu einer Tankstelle, die gegenüber eines Carrefour-Supermarkts lag, der die Bevölkerung in dem Kairoer Vorort Ma’adi versorgte. Michael hielt an der Tankstelle an und bekam von Chris den Auftrag, den Tank sowie einen Reservekanister zu füllen. Derweil wollte sein Freund mit Emily auf die andere Straßenseite gehen, um die Einkaufsliste abzuarbeiten. Chris erachtete jeden Punkt auf dieser Liste für überlebenswichtig.

»Wir brauchen Lebensmittel und Wasser. Eine Landkarte des Gebiets. Einen Grundstock an Werkzeugen – zumindest eine Schaufel und ein Messer. Wir brauchen Taschenlampen, wenn es Nacht wird.« Während der ganzen Fahrt durch die Stadt, so schien es wenigstens, hatte er seine Liste heruntergerattert. »Rucksäcke, Leuchtspurmunition, vielleicht ein Zelt …«

»Chris«, hatte Michael Einspruch erhoben, »wir gehen doch nicht auf eine vierwöchige Expedition in die Sahara. Der Ort auf der Karte liegt nur zwanzig oder dreißig Kilometer weit in der Wüste, und da können in der Nähe sehr wohl Straßen vorbeiführen.«

Chris hatte den Einwand in Bausch und Bogen zurückgewiesen. »So Gott will, hast du recht, und das Ganze wird eine ›Rein-Raus-Geschichte‹, und wir sind zum Abendessen wieder zu Hause. Aber wenn man Pläne umsetzt, verläuft nun mal nicht immer alles so, wie man sich das wünscht. Die Wüste kann … ungastlich sein.« Dann ließ er sich wieder nach hinten in den Rücksitz fallen und las weiter seine Liste vor. »Einen guten Kompass, etwas gegen die Sonne …«

Michael tankte nun das Auto und den Kanister bis obenhin voll und schraubte dann die Deckel wieder zu. Nachdem er den Kanister in der dafür vorgesehenen Nische im Rückraum des SUV gesichert hatte, betrat er den Kassenraum der Tankstelle und erstand drei Tragetüten voller Snacks: Sandwiches, Proteinriegel, Energy-Drinks und Obst, das aussah, als hätte es schon seit Tagen das Verfallsdatum überschritten. Die Lebensmittel an Tankstellen, sagte er sich, sind sich doch überall auf der Welt erstaunlich ähnlich.

Er bezahlte die Rechnung, verließ den Laden und marschierte über den Asphalt auf ihr Fahrzeug zu. Zur selben Zeit kehrten auch Emily und Chris mit zwei Rücksäcken und zwei Einkaufstaschen voller Proviant von ihrer Shoppingtour zurück. Unter seinen Arm hatte sich Chris einen riesigen Wasserbehälter geklemmt, von dem kleine Flaschen herabbaumelten.

»Alles auf deiner großen Liste gefunden?«, fragte Michael.

»Alles abgehakt, bis auf eine Sache.«

»Und das wäre?«

»Wir brauchen noch eine Knarre.«

Michael waren Waffen seit jeher zuwider gewesen. Waffen ganz allgemein schienen ihm in der menschlichen Gesellschaft fehl am Platz, sie waren zu brutal und schrecklich. Zwar wusste er, dass seine Einstellung naiv und sein Zögern eher emotional denn vernünftig war – vor allem die Geschichte neigte ja dazu, von denen bestimmt zu werden, die über die besten Waffen verfügten. Dennoch kam er nicht gegen das grässliche Gefühl an, das jedes Mal seinen Magen befiel, wenn das Gespräch darauf kam. Und Handfeuerwaffen waren für ihn am schlimmsten. Mit ihnen wurde jeglicher Körperkontakt unterbunden. Die Menschen hatten einen Weg ersonnen, das Leben eines anderen völlig unpersönlich aus der Distanz zu beenden. Das war der absolute Sieg der Unmenschlichkeit.

»Eine Knarre?«, zwang er sich nachzufragen.

Was Emily dazu meinte, war ihrem Gesicht nicht zu entnehmen. Michael konnte nicht sagen, ob sie das Gleiche dachte wie er.

Die Position von Chris allerdings war unmissverständlich. »Du hast doch nicht etwa geglaubt, das kleine Katz-und-Maus-Spiel, das ihr beide euch da zusammengesponnen habt, wäre völlig ungefährlich, oder?«

Die beiden blieben stumm.

Chris schüttelte den Kopf. »Wir brauchen eine Waffe. Wenn wir Glück haben, müssen wir sie nicht benutzen. Aber das ist keine Angelegenheit, die wir dem Schicksal überlassen dürfen.«

Nachdem er sein Argument vorgebracht hatte, wandte Chris seine Aufmerksamkeit wieder der vor ihm liegenden Aufgabe zu. Mit einem Nicken in Michaels Richtung schaute er zum Tankstellengebäude hinüber. »Warst du da drin?«

»Es ist ein Tante-Emma-Laden.«

»Was ist der Tankstellenmensch für ein Typ?«

»Es ist ein Einheimischer. Der Laden ist möglicherweise gleichzeitig seine Wohnung.«

»Perfekt«, meinte Chris. »Gebt mir fünf Minuten.« Sogleich marschierte er zum Eingang und verschwand im Inneren der Tankstelle.

Michael drehte sich zu Emily um. »Da sind wir also.« Er ging zu ihr ans Frontende des SUVs und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Die letzten Bemerkungen von Chris hatten beide etwas verschreckt.

»Bist du immer noch sicher, dass du weitermachen willst? Jetzt einen Rückzieher zu machen ist keine Schande.«

Michael hatte recht. Sie konnten die Sache hier abbrechen, den Mietwagen wenden, in einer Stunde wieder am Flughafen sein und von dort nach Hause fliegen, um sich in Sicherheit zu begeben. Sie konnten der Gefahr, der Unwägbarkeit aus dem Weg gehen. Vielleicht würden ja die Männer weiterziehen, die Andrew getötet und ihr Heim verwüstet hatten. Vielleicht wären sie am Ende beide doch in Sicherheit.

Aber nichts davon war sicher – kein bisschen sicherer als das, was in Ägypten vor ihnen lag. Und hier gab es immerhin noch Hoffnung. Die Hoffnung … irgendetwas zu finden.

Emily antwortete nicht. Stattdessen setzte sie ihre Einkäufe ab und vergrub die Finger in ihrer Handtasche. Einen Augenblick später hatte sie den Papierausdruck der verborgenen Karte auseinandergefaltet und an ein Seitenfenster des Wagens gedrückt.

»Wir werden bis Nag Hammadi ungefähr sechs Stunden brauchen«, sagte sie fest, wenngleich Michael das leichte Zittern in ihrer Stimme nicht entging. »Vorausgesetzt, du fährst gut, und wir haben keinen starken Verkehr. Um dann hierhin zu kommen …« – sie deutete mit dem Daumen auf eine Stelle bei dem Höhenzug, wo die berühmten Codizes entdeckt worden waren – »… werden wir noch rund dreißig Minuten brauchen.«

Emily gab die kopierte Karte Michael und schlug dann eine Landkarte auf, die sie und Chris im Einkaufszentrum auf der anderen Straßenseite gekauft hatten. Nachdem sie ein paar Sekunden lang darauf geschaut hatte, fand sie die Ecke, die sie interessierte.

»Entsprechend dieser Karte folgen anschließend ein paar einspurige Straßen, die sich durch das Gebiet winden, aber es kann sein, dass wir auch einfach durch den Sand fahren und zu Fuß laufen müssen. Trotzdem … wenn wir uns beeilen, sollten wir gegen zwei Uhr in Nag Hammadi und mit etwas Glück um drei an unserem Bestimmungsort sein. Wir haben also bis zum Einbruch der Dunkelheit sehr viel Zeit.« Sie hielt die Karte näher zu Michael hin und deutete auf das Gebiet.

Durch Emilys praktische Anweisung beruhigt, schob er jeden Gedanken ans Aufgeben beiseite und konzentrierte sich auf das, was vor ihnen lag. »Klingt gut. Wir können fahren, sobald Chris wieder da i…«

Ein kräftiger Schlag auf den Rücken ließ ihn plötzlich verstummen.

»Sobald ich was?«, fragte Chris und verzog das Gesicht in gespielter Unschuld.

Sofort waren Michaels Bedenken wieder da. »Hast du deine Knarre bekommen?«

»Knarre is’ nicht«, antwortete Chris. »Aber der Abstecher in den Laden war nicht völlig vergebens.«

Er griff unter seinen Blazer und knallte ein hochbelastbares Becker-Messer auf die Haube des SUVs. Die mattschwarze Lackierung der siebzehn Zentimeter langen Klinge passte zur Farbe des Mitsubishi. »Schon erstaunlich, wie weit man mit ein paar schönen Worten und einem Haufen guter alter amerikanischer Scheinchen hier kommt.«

Der verborgene Schlüssel
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