Kapitel 44
Nag Hammadi, Gouvernement Qena, Ägypten
Um 14.42 Uhr bog Michael in der Ortsmitte von Nag Hammadi mit dem Mitsubishi Pajero von der Al Nagda auf die El-Sadat ab. Emily saß auf dem Beifahrersitz und gab Routenanweisungen, die große Landkarte aufgeschlagen auf ihrem Schoß. Chris, der während der Fahrt nach Süden überwiegend geschlafen hatte, war dreißig Minuten zuvor aufgewacht und schien seine Freunde fortlaufend mit Kommentaren zu all dem, was er hinten durch das Seitenfenster sah, erfreuen zu wollen. Zwar würde er aufgrund seiner Ausbildung die Führung übernehmen, sobald sie in der Wüste waren, doch das Fahren auf der ägyptischen Fernstraße überließ er gerne anderen.
»Du biegst gleich nach links auf die Al Hekma Road«, wies Emily ihren Mann an, »dann fährst du zweieinhalb Blocks geradeaus und danach rechts auf die Masr Aswan Al Sree.«
Michael starrte beim Fahren angestrengt auf die Straßenschilder. Die Straßennamen in den kleinen Ortschaften waren nicht gut angebracht, und seine Kenntnisse der arabischen Schrift waren bestenfalls als rudimentär zu bezeichnen.
»Sag Bescheid, wann ich abbiegen soll«, bemerkte er zu Emily. »Das geht vielleicht besser, als sich darauf zu verlassen, dass ich die Beschilderung lesen kann. Diese ägyptischen Straßennamen sind zu viel für mich.«
Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln. Sie selbst war mit dem Arabischen kaum besser vertraut als er. »Die Namen hören sich für ausländische Ohren vielleicht beeindruckend an, aber manchmal ist ihre Bedeutung doch sehr viel schlichter, als man denkt. Soweit ich sagen kann, lautet beispielsweise der Name der Hauptstraße, auf die wir kommen werden, ›Straßen- und Brückenverwaltungs-Straße‹.«
»Geht in beiden Sprachen echt locker von der Zunge!«, rief Chris von hinten. Sein Sinn für Sarkasmus war selbst nach der langen Fahrt ungebrochen.
»Wir nehmen diese Straße bis zur Gizeh Luxor Road, die am Rand der fruchtbaren, vom Nil bewässerten Region entlangführt; daneben beginnt die Trockenwüste. Bis dahin sind es wohl noch zwanzig Minuten.«
»Wird auch Zeit«, brummelte Chris. »Echte Wüste. Wir sind jetzt einen ganzen Tag in Ägypten, und ich habe immer noch keine einzige Sanddüne zu Gesicht bekommen. Wirklich enttäuschend, wenn ich ganz ehrlich sein soll.«
Emily versuchte seine Bemerkung zu übergehen. Chris’ anhaltend gute Laune ging ihr langsam auf die Nerven. Sie unterstellte ihm keineswegs mangelndes Feingefühl, und sie wusste, er nahm die vor ihnen liegenden Aufgaben ernst, aber diese ewige Fröhlichkeit war für sie schwer zu ertragen. Wenn das seine Art war, ihr unter diesen Umständen Mut zu machen, dann hatte es nicht den beabsichtigten Effekt.
Emily legte die Straßenkarte beiseite und klappte wieder den Papierausdruck der antiken Karte auf. Ihr Ziel, die Stelle des »steinernen Schlüssels«, war klar. Die anderen Texte in den Kästen, in vertrauterem Latein geschrieben, waren Anweisungen, wie man dorthin gelangte. Die moderne Landkarte, die Emily auf den Knien hielt, machte die antike Anleitung überflüssig, die für Reisende zu Fuß und ohne den Überblick über die Gegend gedacht war, den die Satellitenkartierung bot. Doch sie staunte immer noch über das handgezeichnete, alte Werk mit seinen detaillierten Anleitungen.
»Richtung Norden, dann vierhundert Schritt zu einem großen Stein«, übersetzte sie laut während der Fahrt. »An dem Steilhang mit drei gleichen Gipfeln vorbei.«
»Da hat sich jemand offensichtlich sehr bemüht, präzise Anweisungen zu geben«, bemerkte Michael.
Emily war von den Sätzen fasziniert, die hier und da neben der Route hingekritzelt waren. Im letzten Kästchen, am unteren Rand der Seite, stand nur eine einzige Zeile:
REGULAE QUONDAM SPECTATAE
Diese lateinische Inschrift stand, anders als die restlichen Texte in dem Dokument, offenbar mit keinem Abschnitt der auf der Karte dargestellten Reiseroute in Verbindung.
Emily sah zu ihrem Mann und wiederholte die Zeile laut. »Regulae quondam spectatae.«
Michael schielte beim Fahren zu ihr hinüber, während er im Kopf rasch eine grobe Übersetzung produzierte. »Die zuvor gesehenen Anweisungen?«
»So verstehe ich das auch.« Emily studierte weiter genau den Text. »Was, meinst du, hat das bedeutet?«
»Ich hab keine Ahnung«, gab er zu. »Das ist ein bisschen kryptischer als ›am großen Fels nach rechts wenden‹. Aber Gott sei Dank brauchen wir uns wohl deswegen keine zu großen Sorgen machen.« Er langte hinüber und raschelte mit der modernen Landkarte, die noch immer unter der ausgedruckten Seite auf Emilys Schoß lag. »Mich interessiert unsere jetzige Strecke mehr. Du bist bis zur Gizeh Luxor Road gekommen. Und wohin dann?«
Emily konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. »Danach wechseln wir in den Allrad-Antrieb und biegen in die Wüste ab. Chris bekommt seine Dünen, und wir fangen an, nach den handschriftlichen jahrhundertealten Anweisungen zu navigieren. Ab da haben die Straßen keine Namen mehr.«
Die Fahrt durch die Ausläufer des bewohnbaren Grüngürtels westlich von Nag Hammadi dauerte, wie Emily vorausgesagt hatte, fast genau zwanzig Minuten, und nach dem Überqueren der Gizeh Luxor Road sahen sie sich so vielen Sanddünen gegenüber, wie Chris es sich nur wünschen konnte. Aber selbst er bremste seinen Humor, als Michael das SUV in den Offroad-Modus schaltete und die Fernstraße auf einer Sandpiste kreuzte, die Emily auf ihrer Karte ausgemacht hatte. Als sie die grüne Landschaft und die befestigten Straßen hinter sich ließen, wurde die Strenge der ägyptischen Wüste mit einem Mal fassbar und real: Der Kontrast war gewaltig. Die Fernstraße zog eine perfekte Grenze zwischen Landschaften, von denen ein geistig gesunder Mensch, der Ägypten nicht kannte, vielleicht gedacht hätte, sie könnten nur auf getrennten Kontinenten existieren: Auf der einen Seite waren üppige Weiden, grüne Bäume und alle Anzeichen von Industrie, Kultur, Gesellschaft und Leben. Dann, zehn Meter weiter links, gab es eine Landschaft in mattem Braun mit runden Formen, die nicht von dieser Welt zu sein schienen, und mit sich überschneidenden Spuren im Sand – ohne jedes Anzeichen von Leben oder gar von Menschen.
Zum ersten Mal auf ihrer Reise war Chris sprachlos. Als das seit Jahrtausenden unveränderte Wüstenterrain von Ägypten in ihren Blick kam, gaffte er nur noch das überwältigende Panorama mit weit aufgerissenen Augen an.
Sie fuhren ungefähr vierzig Minuten lang weiter und wurden dabei immer langsamer, da sich die Sandpiste zu kaum mehr als einem Pfad verengte, der zu mehreren golden schimmernden Bergen dreißig Kilometer weit draußen in der Wüste führte. Schließlich hörte sogar der Pfad auf, und das Trio stellte fest, dass es über noch nie betretene Dünen und Sandflächen fuhr.
»Da oben«, sagte Emily schließlich, sah von der Karte hoch und deutete auf den Fuß eines Steilhangs zweihundert Meter vor ihnen. »Halt so nah wie möglich am Fuß des Bergs an.«
Michael nickte und lenkte den Mitsubishi zu dem Punkt, wo der Sand auf die zerklüfteten Felsen an der Basis der Steilwand traf. Er stellte das SUV auf »Parken«, ließ den Motor aber laufen, damit die Klimaanlage das Wageninnere weiterhin kühl hielt.
»Das war’s, Gentlemen«, verkündete Emily und faltete die Karte zusammen. »Das ist so nah, wie wir mit dem Auto an unser Ziel rankommen. Von jetzt an gehen wir zu Fuß.«