Kapitel 6

Hays Mews, London

Detective Inspector Joanna Alwells Kopf ruckte nach oben. »Andrew Wess war nicht Ihr Ehemann?«

Emily schüttelte langsam den Kopf; sie nahm die Überraschung der anderen Frau kaum wahr.

Das sich rötende Gesicht der Polizistin vereitelte ihren Versuch, die rasch wachsende Verlegenheit unter Kontrolle zu bringen. »Das tut mir leid. Man hat mir gesagt, Sie wären verheiratet, und wegen des gleichlautenden Nachnamens ging ich davon aus …«

»Ich habe bei der Heirat meinen Mädchennamen behalten. Andrew ist mein Cousin aus den Vereinigten Staaten. Er ist in den vergangenen drei Wochen bei uns zu Besuch gewesen. Er war zuvor noch nie in London.« Emily stockte; nostalgische Gefühle kamen in ihr hoch, die nicht kontrollierbar und nicht willkommen waren. Als sie fortfuhr, war ihre Stimme nicht fest. »Wir haben immer die Sommer gemeinsam verbracht, draußen im Wald, während unserer ganzen Kindheit. Kletterten auf Bäume, bauten Festungen. Was immer der Sommer brachte.« Die Worte schnürten ihr immer mehr die Kehle zu.

Alwell ließ ihr einen Augenblick Zeit, die Fassung wiederzugewinnen, dann lenkte sie Emilys Aufmerksamkeit wieder auf die Ereignisse in den frühen Morgenstunden.

»Also, diese Männer sind bei Ihnen eingebrochen und haben Ihren Cousin angegriffen, um eine Karte zu stehlen. Eine Karte von was?«

»Es ergibt keinen Sinn«, entgegnete Emily. »Als Ihre Kollegen mich baten, den Schreibtisch durchzusehen und zu schauen, was fehlt, merkte ich sofort, was die Männer mitgenommen hatten. Es handelt sich um eine Mappe mit einem Manuskript, das ich gerade geprüft habe – eine Neuerwerbung, die ich für die CUA machte.«

»CUA?«

»Catholic University of America in Washington, D.C. Ich habe dort für ein Jahr eine Gastprofessur, während meiner Freisemester am Carleton College in Minnesota. Eine meiner Hauptaufgaben ist es, neue Materialien für die Sondersammlung der Universität zu erwerben. Dieser Aufenthalt in London sollte dazu dienen, dieses Manuskript abzuholen und es zurück nach Washington zu bringen. Der Familiensitz meines Mannes hier in der Stadt ist für uns ein bequemer Stützpunkt, vor allem seit er hier für zwölf Monate einen Posten innehat.«

»Ihr Mann ist Brite?«

Emily nickte zur Bestätigung, und Alwell schrieb diese Information auf.

»Diese Männer brachen also ein, um ein Manuskript zu stehlen«, setzte die Polizeibeamtin einen Augenblick später hinzu und sah hoch. Das war zumindest ein eindeutiges Motiv. »Ist es wertvoll?«

»Für Historiker natürlich. Doch in finanzieller Hinsicht lohnt es einen Diebstahl kaum. Die Universität kaufte es hier von einem privaten Sammler für etwas mehr als 7500 Pfund.«

»Kleingeld kann man das nicht gerade nennen.«

»Mag sein. Es ist eine Frage der Perspektive. Der letzte Ankauf, den mein Büro tätigte, war ein Pergament aus dem elften Jahrhundert. Die Summe belief sich auf 600 000 Dollar. Wir bekamen dieses Manuskript nur so günstig, weil seine Echtheit angezweifelt wird. Es könnte eine Fälschung aus einer späteren Zeit sein.«

Alwell hob eine Augenbraue. »Ich hatte keine Ahnung, dass alte Manuskripte so teuer sind.« Sie hielt die Angaben auf ihrem Notizblock fest. »Also, die Eindringlinge nahmen diese uralte Karte an sich und verschwanden?«

»Es ist keine Karte.«

»Sie sagten doch –»

»Ich sagte, sie haben es so genannt. Das Manuskript ist ein französischer Text aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts und schildert die Geschichte einer Siedlung im Languedoc. Ich habe keine Ahnung, warum sie ihn als Karte bezeichneten. Auf dem Blatt ist nichts als Text, und an keiner Stelle werden detaillierte geografische Angaben gemacht.«

Alwell notierte sich auch das. Ob die Informationen für sie mehr Sinn ergaben als für Emily, war ihrem Gesicht nicht zu entnehmen – jahrelang hatte sie sich darin geübt, mit professioneller sachlicher Miene ihren Beruf auszuüben.

»Was geschah dann, Dr. Wess?«

»Das war der Moment, als Andrew losschrie und in das Zimmer stürmte. Eine Sekunde später fielen die Schüsse. Die Männer hielten sich nicht mehr lange hier im Haus auf, nachdem sie ihn getötet hatten.« Emily rang um Fassung. »Sie nahmen das Manuskript. Verschwanden durch den Hintereingang.«

Als Alwell ihre Notizen beendet hatte, blickte sie hoch. »Gibt es sonst noch etwas? Irgendetwas?«

Emily schüttelte verneinend den Kopf – ihre erste und einzige Lüge an diesem Morgen. Aus welchem Grund auch immer: Irgendetwas drängte sie, eine Tatsache zu verschweigen, von der sie wusste, dass diese die Tat in neuem Licht erscheinen lassen würde – vielleicht sogar in gravierender Weise. Sie wusste, es war wichtig. Aber sie konnte sich nicht dazu durchringen, der Polizeibeamtin diese Tatsache mitzuteilen.

Alwell richtete sich in ihrem Sessel auf und schob den Notizblock in eine Tasche ihrer Uniform. »Da ist noch eine letzte Sache. Die US-amerikanische Botschaft muss über den Tod Ihres Cousins informiert werden«, sagte sie. »Das können Sie selbst machen, Dr. Wess, oder ich kann es für Sie übernehmen; allerdings werden Sie irgendwann direkt mit denen Kontakt aufnehmen müssen.«

Emily entschied sich mit einem Nicken für die zweite Option, und die Polizeibeamtin versuchte, sie tröstend anzulächeln. »In Ordnung. Das ist im Augenblick alles. Sie waren ungeheuer hilfreich. Ich weiß, Sie sind begierig, ein Telefonat zu führen. Gibt es jemanden, den wir für Sie anrufen können? Irgendjemand, mit dem Sie in dieser schweren Zeit reden möchten?«

Emily fiel nur ein einziger Name ein, und ohne Zögern nannte sie ihn der Ermittlerin.

»Michael Torrance. Ich würde gerne mit meinem Mann reden.«

Der verborgene Schlüssel
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