Kapitel 86

Altägypten, im Jahre des Herrn 373

Der junge Mann, der im Keller des kleinen Hauses seines Mentors an seiner Arbeit saß, hatte sich noch nicht für einen Namen entschieden. Er war einfach als Markus geboren worden, und obwohl er den Namen stets gemocht hatte, wusste er doch, dass der Eintritt in die Bruderschaft der Erleuchteten viele Veränderungen mit sich bringen würde. Tarasios hatte ihm gesagt, er könne sich einen Namen aussuchen und solle über diese Wahl sorgfältig nachdenken. Die Namen der Erwählten bezeichneten diese für die Ewigkeit.

Doch heute hatte Markus andere Prioritäten. Durch seine Ausbildung als Schreiber war er unerwartet ins Zentrum dessen geraten, was die Brüder »Bewahrung der Befreiung« nannten, und selbst als Novize war ihm klar, dass es sich um einen Akt von fundamentaler Bedeutung handelte.

»Die Verfolgungen werden stärker«, hatte Tarasios ihm und einer Gruppe von Mitbrüdern vor Monaten erzählt. »Unsere Hoffnungen, die wahre Freiheit im Römischen Reich verkünden zu können, sinken. Sogar unser Fortbestehen ist gefährdet.«

Die kaiserlichen Streitkräfte kamen näher. Brüder wurden gefangen genommen, gefoltert und hingerichtet. Ganze Gemeinden wurden ins »Exil« verbannt, doch jeder ging davon aus, dass dieses Exil etwas Endgültigeres bedeutete als lediglich eine Umsiedelung.

Deshalb war das Projekt der Bewahrung ersonnen worden. Das Gebet würde versteckt werden. Es würde in Sicherheit gebracht und für die Zukunft bewahrt werden – für eine Zeit, in der es in all seiner Herrlichkeit eingesetzt werden könnte.

Markus blickte hinab auf die kleinen Blätterstapel vor ihm und seinem Kollegen, der ebenfalls ein Schreiber war und Paulus hieß. Dessen Papyrusblätter waren bereits präpariert und die heiligen Worte mit einer Tinte darauf niedergeschrieben worden, deren mystische Eigenschaften bewirkten, dass sie nur Sekunden, nachdem sie die flachen, gepressten Schilfstreifen, aus denen das Blatt bestand, berührt hatte, völlig verschwand.

Paulus hatte sich bereits eine Feder genommen und begann mit kundiger Sorgfalt, auf die »leeren« Seiten die Worte des Evangeliums von Thomas dem Blinden zu übertragen, dessen Original neben ihm lag. Wenn die dunklere Tinte getrocknet war – die man ebenfalls nach einem von der Bruderschaft entwickelten Spezialrezept angerührt hatte –, würde nichts mehr darauf hindeuten, dass darunter verborgene Wörter geschrieben waren.

Markus wandte sich seiner eigenen Aufgabe zu. Der Papyrusstapel vor ihm enthielt keinen verborgenen Text, aber die Wörter, die er schreiben würde, bargen eine versteckte Botschaft.

Er holte den steinernen Schlüssel aus einem Beutel an seinem Hals und legte ihn neben den Papyrusblättern auf den Tisch. Dann öffnete er die – so heilige, so alte – Schriftrolle. Für die Brüder war die originale Niederschrift des Evangeliums der Wahrheit von Valentinus eines ihrer meistverehrten Besitztümer, das ein Jahrhundert zurückdatierte, in die Zeit ihrer eigentlichen Anfänge.

Markus hatte eine eindeutige Aufgabe erhalten: den Text auf die Seiten zu kopieren und dabei dessen Worte und Aufbau wie verlangt zu verändern, um auf diese Weise die Liste der Bestandteile zu verschlüsseln, die eine zukünftige Generation eines Tages benötigen würde.

Die Liste hatte der Alchemist erstellt. Markus wandte sich der ersten Zutat zu, nahm deren Anfangsbuchstaben und führte ihn durch die Formel des steinernen Schlüssels. Danach blickte ihm der neue, codierte Buchstabe entgegen.

Markus hob die Feder, stippte sie in ein Gefäß mit dicker Tinte und setzte sie auf das Blatt.

Der verborgene Schlüssel
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