Kapitel 30
Britisches Museum, London
»Damit ich dich auch richtig verstehe«, antwortete Michael schließlich. »Du willst dieser Karte folgen, damit der Mann, der Andrews Ermordung veranlasste, um sie zu finden, tatsächlich ein weiteres Mal hinter dir her ist?«
»Entweder das, oder wir lassen einfach zu, dass er verschwinden kann«, antwortete sie. »Und das kommt überhaupt nicht in Frage.«
Emily bezwang ihre Heftigkeit und milderte ihren Tonfall, sodass sich nun in ihrer Stimme aufrichtige Gefühle ausdrückten. »Abgesehen von dir und meinem Bruder war Andrew der einzige Mann in meinem Leben. Wir mögen verwandt gewesen sein, aber wir waren seit der Grundschule beste Freunde. Das weißt du. Mein Humor, meine Abenteuerlust, mein Selbstvertrauen beim Sparring mit anderen – das alles kommt von Andrew.« Während sie sprach, begannen in ihren Augen Tränen zu schimmern, die ihr über die Wangen zu rinnen drohten. »Ich lasse nicht zu, dass er sinnlos gestorben ist, Mike. Nicht, wenn ich es verhindern kann.«
Als Michael sah, dass ihre Trauer zurückkehrte, verebbte seine Wut. Er nahm Emily in die Arme, um ihr etwas von seiner Kraft zu geben.
»Die Polizei, Em. Sie werden die Ermordung eines US-Bürgers mitten in London nicht einfach auf sich beruhen lassen.«
»Aber sie werden auch nicht in einen Flieger nach Ägypten hüpfen«, widersprach sie, entzog ihm eine Hand und wischte sich die Feuchtigkeit aus den Augen. »Du weißt so gut wie ich, dass sie nicht einer Spur nachgehen werden, die so wenig konkret ist wie eine alte Karte auf der Hälfte eines Manuskripts.«
»Aber du erwartest, dass wir genau das tun? Nach Ägypten fliegen und nachschauen, auf was diese Karte hinweist?«
Emilys Gesichtszüge spannten sich an. »Es ist nicht das erste Mal, dass ich allein ins Ausland fliegen müsste, um in einem Todesfall einen Sinn zu finden, ohne viel in der Hand zu haben. Das letzte Mal ging es am Ende doch gut aus.« Ihr Trotz war wieder da, und die Anspielung darauf, dass sie fünf Jahre zuvor nach der Ermordung eines Kollegen vagen Hinweisen nachgegangen war, die schließlich zur verlorenen Bibliothek von Alexandria geführt hatten, war bei Michael nicht vergebens. Sie hatte Minnesota mit nur zwei Schnipseln Papier und den kryptischen Anweisungen eines alten Mannes verlassen, um dann festzustellen, dass sie einer Spur von Amerika nach England, dann nach Ägypten und Istanbul und noch weiter darüber hinaus nachspürte. Und sie hatte gefunden, wonach sie suchte.
»Ich habe die Reise alleine unternommen«, fügte sie spitz hinzu. »Wenn es sein muss, unternehme ich auch diese jetzt allein.«
»Du hast diese Reise allein gemacht, weil keiner von uns wusste, worauf du dich da eingelassen hattest«, antwortete Michael. Er erinnerte sich wieder an die Sorgen, die ihn fast eine Woche lang im Griff gehalten hatten. Es war eine Erfahrung, die er nicht noch einmal erleben wollte. »Diesmal lass ich dich keinesfalls aus dem Auge.«
Trotz der Bitterkeit des Augenblicks zeigte sich nach Michaels Worten auf Emilys Gesicht mit einem Mal ein Ausdruck von Warmherzigkeit. Erleichterung.
»Du kommst mit?«
»Wenn sich ein dummes Schaf mal schnell nach Ägypten begibt?« Michael beherrschte sich sogleich wieder. Die Chancen, dass solch eine Reise mehr brachte als nur ein bisschen Ablenkung von ihrer Trauer, waren bestenfalls minimal. Aber vielleicht war Ablenkung schon genug. »Na gut, wenn das eine dumme Schaf fliegt, kann das andere – also ich – auch mitkommen.«
»Verdammt wahr«, gab Emily zurück und eilte voller Dankbarkeit zu ihm. Sie umarmten sich, und ihre Lippen trafen sich zu einem langen zärtlichen Kuss.
Der bewegende Augenblick erfuhr ein jähes Ende, als Emilys Handy durchdringend zu klingeln begann. Sie griff in die Tasche ihres Salvatore-Ferragamo-Jacketts, tippte auf ihr Blackberry, ohne sich auf dem Display die Nummer des Anrufers anzusehen, und hielt es sich ans Ohr, während ihre Lippen sich von denen ihres Mannes lösten.
»Ja?« Ihre Augen blickten immer noch in seine.
»Em, o Scheiße, geht es Ihnen gut?« Die Stimme einer von Panik ergriffenen Frau dröhnte aus dem kleinen Lautsprecher des Telefons.
»Ja, ja, mir geht’s gut«, antwortete Emily und kehrte zurück in die Wirklichkeit. Es ist Grace. Sie formte lautlos den Namen ihrer neugierigen und oft allzu überschwänglichen Nachbarin von nebenan: Grace Willis-Chapman. »Sie haben das von Andrew gehört.«
»Andrew? Nein. Das können Sie mir später erzählen.« Der Tonfall der Frau war hektisch. »Sagen Sie mir, dass es Ihnen gut geht!«
»Es geht mir bestens«, antwortete Emily. »Aber ich verstehe nicht … Wenn Sie nicht über Andrew Bescheid wissen, warum rufen Sie dann …«
»Ihr Haus!«, Grace brüllte ins Telefon. »Irgendetwas geht in Ihrem Haus vor. Die halbe Metropolitan Police parkt vor Ihrem Eingang!«