Kapitel 78
Ägypten
Emily hatte noch eine Stunde gebraucht, um den restlichen Inhalt des Evangeliums der Wahrheit mithilfe ihrer Zeichnung des steinernen Schlüssels zu dechiffrieren und zu übersetzen. Ihr standen nicht alle Seiten zur Verfügung, aber sie hatte alles entschlüsselt, was ihr möglich war.
»Der Text ist fertig«, sagte sie zu Michael. »Ich habe ihn übersetzt, so gut ich kann.«
»Immer noch durchgängig dasselbe – eine Liste?«
»Nur der letzte Satz – in Wahrheit die letzten drei Worte – hat eine eindeutige Bedeutung«, antwortete Emily. »Die Worte sind das Incipit eines anderen Nag-Hammadi-Texts, vielleicht des berühmtesten von allen.« Sie schaute auf den Bildschirm und las laut vor. Das Koptische kam in zusammenhanglosen Bruchstücken heraus.
Michael wiederholte die Worte, nachdem Emily sie gesagt hatte, und übersetzte sie dann. Als er die Zeile wiedererkannte, wurden seine Augen weit. »Machst du Witze? Das ist die Anfangszeile des Thomasevangeliums, des sensationellsten Fundes der ganzen Bibliothek.«
»Kein Witz«, erwiderte sie. »Die Abschrift des Thomasevangeliums in der Nag-Hammadi-Bibliothek ist die einzige Ausgabe, die jemals entdeckt wurde. Und das Ende dieses verschlüsselten Texts verweist eindeutig auf dieses Evangelium. Alles, was davor steht, ist in drei Listen unterteilt.« Sie scrollte durch ihre Übersetzung nach oben. »Jede trägt eine Überschrift: ›Stufe 1‹, ›Stufe 2‹, ›Stufe 3‹. Danach kommen Gruppen von Ingredienzen und darunter jeweils eine Zahl. Es sind zumeist medizinische, chemische und kulinarische Begriffe.«
Michael musste seine Überraschung nicht heucheln. »Kulinarische?«
»Ich weiß nicht, wie ich sie sonst nennen sollte. Die Listen beinhalten Dinge wie Kardamom, Zimt und verschiedene Salze, dann aber auch mehrere Baumrindenöle und Pflanzenextrakte. Die abgekochten Destillate bestimmter Blüten und Blätter.«
»Vielleicht sind einige davon Kochzutaten; trotzdem ist das kein Rezept für etwas Essbares.«
Emily stellte den Laptop aufs Armaturenbrett und drehte sich zu Michael. »Ich versuche verzweifelt, all dem einen Sinn abzugewinnen, aber ich gebe offen zu, die Stücke passen noch nicht so recht zusammen. Mord, Brandstiftung, eine internationale Verfolgungsjagd … Das ist schon ziemlich happig für eine Sammlung antiker Rezepte und einen Literaturhinweis.«
Michael hielt den Blick auf die Straße gerichtet, aber sein Gesichtsausdruck änderte sich. »Das hängt ganz davon ab, wofür diese Rezepte gedacht sind. Em, du hast soeben etwas in deiner Zusammenfassung ausgelassen. Etwas Wichtiges.«
Emily ging noch einmal in Gedanken ihre soeben geäußerten Worte durch und ließ dann Michael weitersprechen.
»Bell und seine Gruppe töteten deinen Cousin, um an die Karte zum steinernen Schlüssel zu kommen. Aber es war gar keine Karte, wenigstens nicht zu Anfang. Wenn Bells Männer das nicht erwähnt hätten, was du gehört hast, hätten wir vermutlich nicht gewusst, dass wir uns das Manuskript genauer ansehen mussten. Unter den gegebenen Umständen erwies es sich erst dann als Landkarte, als wir es einer Überprüfung mit Hightech-Geräten unterzogen hatten, bei der offenbar wurde, was unter der Oberfläche verborgen war.«
Emily stellten sich die Härchen im Nacken auf.
»Wir verwendeten einen Scanner und schließlich ein Röntgengerät«, fuhr er fort, »um zu sehen, was da vor Jahrhunderten aufgeschrieben wurde. Aber ganz offensichtlich kann eine so moderne Technik nicht die einzige Möglichkeit sein, um das darunter Geschriebene sichtbar zu machen. Es muss auch ohne diese Technik gehen: mit einer Methode, die in den Jahrhunderten durchgeführt werden konnte, als es niedergeschrieben wurde.«
»Ein Lösungsmittel.« Das Wort kam Emily über die Lippen, als ihr Blick auf die Listen mit den Ingredienzen fiel, die der verschlüsselte Text offenbart hatte.
»Und dein Manuskript mit der Karte ist zwar vielleicht nur ein paar Jahrhunderte alt, aber es ist durchaus denkbar, dass ein derartiges Mittel für eine Geheimschrift noch viel älter ist.« Er hob eine Hand vom Lenkrad und deutete auf die Nag-Hammadi-Texte auf ihrem Bildschirm. »Sehr viel älter.«
Bei Michaels Ausführungen fielen in Emilys Kopf die Puzzleteile an die richtige Stelle. »Deshalb sind sie so darauf aus, die Originalmanuskripte in die Hände zu bekommen. Sie wollen nicht nur einfach diese Liste entschlüsseln. Sie wollen die Ingredienzen dazu benutzen, um etwas zu enthüllen, das unter einem anderen Text verborgen ist.«
»Und wir wissen, welcher Text ihrer Meinung nach diese verborgene Aufzeichnung enthält«, sagte Michael.
»Das Thomasevangelium.«
Michael nickte. »Du hast mir vorhin die Anfangszeile auf Koptisch vorgelesen. Ich sage sie dir auf Englisch vor: ›Dies sind die geheimen Worte, die Jesus, der Lebendige, sprach und die Didymus Judas Thomas aufgeschrieben hat. Und er sprach: Wer die Bedeutung dieser Worte erkennt, wird den Tod nicht schmecken.‹«