Kapitel 124

Magnificent Mile, Chicago

Über den Platz hörten Emily und Michael Worte, die mit dröhnender Lautstärke den Lärm der Menschenmenge und die zunehmend disharmonischere Hintergrundmusik der Marschkapellen und Chöre übertönten. In Bells Rezitation fielen die Stimmen aller in Roben gehüllten Gestalten auf dem großen Platz ein, die den Text von ihren Fotokopien ablasen. Bald war dies das Einzige, was Emily und Michael, aber auch alle anderen, noch hören konnten.

Emily drehte sich um die eigene Achse, um den Ursprung des vielfachen Sprechgesangs aufzufinden, und sah einige Meter entfernt Arthur Bell auf einer Betonsäule stehen und durch ein Megafon beten: Er war nun ganz der zeremonielle Marcianus. Ohne dass Emily sich dessen richtig bewusst wurde, setzten sich ihre Beine in Bewegung, und einen Augenblick später stand sie zu Füßen des Mannes neben dem Betonblock.

»Hören Sie auf damit!«, rief sie zu Marcianus hoch. »Sie müssen nicht der Grund für so viele Todesopfer sein!«

Er ignorierte sie und fuhr mit dem Gebet fort.

»Wir sind herabgestiegen und ins Chaos gelangt;

Wir standen bei jenen, die an diesem Ort waren –

Wir wurden mit ihnen verborgen, verliehen ihnen Kraft und Gestalt.«

Emily wurde klar, dass ihre Bitten nichts fruchteten, und blickte verzweifelt zu Michael. Aufgrund seiner Verletzungen würde er nicht in der Lage sein, das zu tun, was, wie sie wusste, nun getan werden musste. Sie wandte sich direkt Marcianus zu, griff an die Säule und begann daran hochzuklettern, um zu ihm zu gelangen. Ein Beinschwung, und sie war fast schon oben.

Marcianus bemerkte eine Bewegung unter sich und blickte hinab. Plötzlich waren seine Augen voller Zorn. Er versuchte, seine ganze Kraft im linken Bein zu konzentrieren, und rammte seinen Fuß Emily seitlich an den Kopf. Ihr Griff lockerte sich sofort, sie flog nach hinten und stürzte auf den Bürgersteig. Michael, der inzwischen herbeigeeilt war, wollte sie noch auffangen, aber mit nur einem gesunden Arm gelang es ihm lediglich, ihren Aufprall auf dem Boden abzuschwächen.

»Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten!«, brüllte Marcianus, der nun das Megafon weit von seinem Mund weghielt und auf die beiden hinabsah. »Alles ist erreicht. Die Worte werden in all ihrer Herrlichkeit gesprochen!« Um dies zu unterstreichen, hob Marcianus seine freie Hand und schwenkte sie mit einer pompösen Geste in Richtung der Menge. Ohne dass sich die Lippen des Großen Anführers bewegten, erklangen gleichwohl die Worte des Befreiungsgebets – es wurde weiterhin von zahlreichen Menschen rezitiert.

»Nun werden wir die Herrlichkeiten jenen gewähren, die unser sind:

Wir werden offenbaren uns selbst wie auch die Geheimnisse

Und vor euch die Kinder des Lichts werden!«

Emily kam wieder auf die Füße und blickte verzweifelt in die Menschenmenge. Die Sektenmitglieder waren überall. Sie schaute zur Mitte des Platzes, wo die Parade zum Stillstand gekommen war und die versammelten religiösen Würdenträger in Formation standen. Dort, mitten unter ihnen, stand ein Priester mit Robe. Und an ihrer Spitze sprach der Gouverneur höchstselbst, in Samt gekleidet, feierlich das Gebet mit. Ist da denn keiner, der nicht dazugehört?!, schrie Emily innerlich auf.

Genauso unübersehbar war eine andere Tatsache, die ihr plötzlich bewusst wurde: Die ganze Chicagoer Division des FBI war wegen der drohenden Gefahr auf den Straßen unterwegs, doch hier auf dem Platz gab es fast keinerlei Anzeichen für ihre Anwesenheit. Die Plaza war voller Zuschauer und Gefolgsleute von Bell, doch vom FBI war nirgendwo etwas zu sehen.

Gallows, dachte Emily anklagend. Der Mann, den Chris und seine Partnerin als Maulwurf beim FBI identifiziert hatten. Er muss bei der Erstellung des Suchrasters die Hand im Spiel gehabt und dafür gesorgt haben, dass im Zentrum des Ganzen keine Überwachung stattfand.

Emily, die verzweifelt nach einer Möglichkeit suchte, die Aktion der Sekte zu unterbinden, nahm wieder das Funkgerät zur Hand, das Chris ihrem Mann gegeben hatte. Sie zwang sich, sich auf das mit Tasten voll belegte Bedienfeld des überraschend komplizierten Geräts zu konzentrieren. Schließlich fand sie eine Taste mit der Aufschrift »Übertragen«, drückte darauf ihren Daumen und rief in das Funkgerät: »Der Rädelsführer der Sekte steht auf einem Betonsockel mitten auf dem Platz des Old Water Tower und leitet das Vorspiel zur Detonation ihrer Bombe. Wir brauchen Hilfe, um ihn aufzuhalten. Jeden Mann!«

Marcianus hatte sich wieder der Rezitation durch das Megafon zugewandt; sein ganzer Körper spiegelte die mentale, Mantra-gleiche Konzentration auf die Worte wider, die er sprach.

»Wir werden die sichtbare von der unsichtbaren Welt scheiden;

Wir werden die Rettung verborgener Weisheit kundtun.

Denn wir sind die Ersten und die Letzten;

Wir sind die Verehrten und die Verachteten.

Wir sind die Huren und die Heiligen.«

Von seinem Platz aus – mitten auf der Straße in der vordersten Reihe der Einheitsprozession – sah Kardinal O’Dowd entsetzt auf die abscheuliche Vorstellung, die rund um ihn herum stattfand. Ganz in seiner Nähe hatte sich Gouverneur Wilson absurderweise in einen lächerlichen Samtkittel geworfen und schloss sich nun dem lachhaften Gebet von, wie es schien, Hunderten anderen Leuten an, das nicht nur den Platz, sondern anscheinend die ganze Parade zu beherrschen schien. Die Fernsehkameras, die wegen der Prozession gekommen waren, hatten ihren großen Tag, als sie über die ungewohnt gekleideten Sektierer schwenkten und deren Gelaber ins ganze Land hinauspfiffen.

Das Misstrauen des Kardinals gegenüber diesem Ereignis war berechtigt gewesen. Sein einziges Problem war lediglich, dass er nicht misstrauisch genug gewesen war. Er hatte erwartet, es würde sich um PR-inspirierten zeremoniellen Mist handeln. Doch was daraus jetzt geworden war, stellte eine Art spiritualistische Varieténummer seitens einer Gruppe von Fanatikern dar – Fanatikern, zu denen offenbar selbst der Gouverneur gehörte. Es war eine Travestie. Er war unumkehrbar zum Objekt öffentlichen Gespötts geworden. Er und all die anderen religiösen Oberhäupter, die Teil dieser nun chaotischen Prozession waren.

Kardinal O’Dowds Ansicht änderte sich jedoch, als er den über den Polizeifunk gesendeten Hilfsappell aus einem Empfangsgerät hörte, das an der Hüfte eines der Wachleute in der Nähe des Gouverneurs hing. Obwohl das Gesagte wegen des Lärms der Menschenmenge und des schwachen Tons des Funkgeräts nur schwer zu verstehen war, konnte er doch eine hektische Stimme ausmachen, die um Hilfe bat und brüllte, dieses ganze unsinnige Gebet sei das Vorspiel zu etwas Unvorstellbarem. Zu einer Bombe inmitten der Menge.

Der Kardinal wusste, es gab eine Zeit für Wut, und es gab eine Zeit, um zu handeln. Er durfte nicht zulassen, dass dieses Event zu einem ungehemmten Schlachtruf wurde, der zu Tod und Zerstörung führte.

Er brach aus der Gruppe aus, drehte sich um und rannte in die Menschenmenge.

Gouverneur Wilson war jetzt vollständig im Zeremonialgewand der Bruderschaft und für seine Befreiung bereit. Die Männer und Frauen um ihn herum waren verblüfft, ja richtiggehend verstört über sein Benehmen, aber er hatte gewusst, dass sie so reagieren würden. Selbst seine engsten Mitarbeiter hatten nichts von seiner Mitgliedschaft und seinen wahren Absichten geahnt. Er war ein meisterhafter Bewahrer von Geheimnissen geworden, und ob der Verstörtheit auf den Gesichtern der Nichterleuchteten in den letzten Augenblicken ihres beklagenswerten Lebens empfand er eine gewisse Freude.

Aber vor einem Moment hatte das Funkgerät geknistert und der Gouverneur den Aufruf der Frau gehört. Der Große Anführer wurde angegriffen. Sie hatte um Hilfe gebeten. Sie versuchte, sie aufzuhalten.

Und dann war der Kardinal aus der Reihe getanzt und fortgerannt.

Wozu wären die Bemühungen der Bruderschaft, das FBI und staatliche Behörden zu infiltrieren, und ihr Erfolg bei der Sicherstellung einer Security-freien Zone rund um die Plaza im Augenblick des Handelns letztlich gut, wenn ein rebellierender Geistlicher es schaffte, irgendeiner Frau zu helfen, ein Geschehen aufzuhalten, was, wie die Geschichte behauptete, nicht aufgehalten werden durfte?

Der Gouverneur konnte das nicht zulassen. Er raffte seine Samtrobe, schob sich durch die Reihe seiner verdutzten Mitarbeiter und folgte dem Kirchenfürsten in die Mitte des Platzes.

Der verborgene Schlüssel
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