Kapitel 60
FBI-Außenstelle, Chicago
Special Agent Laura Marsh rieb sich die Schläfen, während sie auf den Monitor auf ihrem Schreibtisch blickte und das Material nun zum sechsten Mal sichtete. Oder vielleicht war es auch schon das siebte Mal. Sie war beim Zählen durcheinandergekommen, während sie ständig zwischen etlichen geöffneten Fenstern auf ihrem Bildschirm und diversen Papieren auf dem Tisch hin und her wechselte, wobei die einzelnen Schritte ihrer Hintergrundrecherche ineinander verschwammen.
In ihrem Kopf, direkt hinter ihren Schläfen – dort, wo weder das Reiben mit den Fingern noch eine Massage hinkamen –, pochte es schmerzhaft, und das nicht nur wegen der schwierigen Aufgabe, die Hintergrundinformationen zur Verbindung der Kirche der Wahrheit in der Befreiung mit dem Nahen Osten zusammenzustellen. Ihr Kopf schmerzte, weil da irgendetwas nicht stimmte. Irgendetwas passte nicht, und wenn einzelne Materialien nicht zusammenpassten, hämmerte Marsh der Kopf.
Sie übersahen da etwas. Die Kirche zeigte keinerlei Anzeichen für internationale Aktivitäten; doch die Informationen darüber, dass sie Chicago bedrohte – das Video, die Berichte aus dem Irak, die Aussagen von Pike –, sprachen alle für eine enge arabische Verbindung.
Die arabische Verbindung wiederum sprach für ein anti-amerikanisches Motiv; doch in dem ganzen Material über die Kirche war nichts, das auf irgendeine Art auf politische Einstellung schließen ließ – ganz zu schweigen von einer anti-amerikanischen Position.
Und wenn die Kirche eine anti-amerikanische Facette haben sollte, dann würde dies auf eine ideologische, von Machtgier getriebene Motivation hindeuten und die mutmaßlichen terroristischen Neigungen untermauern. Aber der das FBI beratende Anthropologe hatte gesagt, aufgrund ihrer gnostischen Tendenzen würde die Gruppe so etwas wohl ablehnen; sie wäre vielmehr dem Frieden und der Erleuchtung sowie der Freiheit des Geistes zugeneigt, jedoch nicht irgendwelchen politischen Machtspielchen und terroristischen Ideologien.
Nein, hier war irgendetwas, das keinen Sinn ergab. Sie übersah etwas. Sie alle übersahen etwas.
Marshs Blick fiel auf ein gelbes Blatt, das ein Agent einige Minuten zuvor bei ihr abgegeben hatte. Bei der kompletten Überwachung der Handykommunikation hatte die National Security Administration nach einem Gespräch, in dem der Begriff »Video« und genug andere Charakteristika umhergeschwirrt waren, um einen Alarm auszulösen, die zugehörige Nummer identifiziert. Die NSA hatte, was höchst untypisch für sie war, die Information dem FBI mitgeteilt und die Position des Telefons trianguliert. Es war an diesem Morgen verwaist auf einem Restauranttisch im Drake Hotel gefunden worden.
In einem Hotel, das direkt an der Strecke der Parade zum 4. Juli lag.
Das Telefonat war eine wichtige Spur. Es deutete auf Unterstützung und Aktivitäten vor Ort hin. Aber es war nicht dieser Anruf, der Special Agent Laura Marsh beunruhigte. Es war ein kleines Detail in dem Bericht: Das Telefon war ein italienisches Fabrikat, registriert im T-Mobile-Netz der Deutschen Telekom.
Chicago. Irak. New York. Großbritannien. Und jetzt Italien. Deutschland. Das Verbreitungsgebiet der Kirche der Wahrheit in der Befreiung schien sich mit jeder neuen Spur, die sie fanden, immens zu vergrößern.
Marsh rieb sich die Schläfen noch fester.
Wir übersehen da etwas …