Prolog
Im Jahre des Herrn
374
Ägyptische Wüste
Tarasios von Luxor starrte dem größeren Mann in die grimmig blickenden, kalten Augen. Die scharfe Schneide des mit Gravuren verzierten Pugio, die ihm an die Kehle gedrückt wurde, hatte die Haut geritzt. Ein wenig Blut quoll bereits aus der Wunde hervor, und der Druck der Klinge auf den Kehlkopf nahm Tarasios den Atem. Ganz egal, was als Nächstes kam – er wusste, dass am Ende dieser Begegnung der mächtige Mann ihm mit einem kurzen, kräftigen Ruck die Kehle durchschneiden und ihn aus diesem Leben schicken würde. So viel war sicher. Sein Lebensweg auf Erden war bereits vorüber.
Doch es bestand noch Hoffnung – eine großartige Hoffnung. Er würde frei sein, und seine Befreiung bedeutete, dass ihre Sache weiterhin in Sicherheit bliebe.
Der größere Mann, der durch seine militärische Körperhaltung auffiel und dessen abgetragene Kleidung die Insignien des Römischen Reiches trug, packte mit der freien Hand Tarasios am Haarschopf.
»Deine Kumpane haben dich verlassen, Kleiner. Deine erbärmlichen Gefolgsleute sind geflohen wie die Wüstenratten in den Sand.« Er spuckte die Worte mit grausamer Gehässigkeit aus.
»Sie wissen, was Verfolgung heißt«, gab Tarasios zurück; er zwang sich angesichts des sicheren Todes zu einem trotzigen Ton. »Sie wissen, was du und deine Männer ihnen antun werden, wenn ihr sie schnappt.«
Der Offizier lächelte zufrieden. »Gut. Zumindest ist ihre Angst gerechtfertigt. Vielleicht steckt in diesen ›Wissenden‹ doch ein wenig Wissen.« Er blickte seinem Opfer prüfend in die Augen. Er erwartete, darin Entsetzen zu finden. Hoffnungslosigkeit. Panik. Stattdessen sah er jedoch nur Entschlossenheit, und das machte ihn noch wütender.
»Sag mir, wohin sie gegangen sind«, verlangte er und zwang Tarasios’ Kopf nach hinten. Die scharfe Klinge des Dolchs drückte noch etwas tiefer in die Haut über der sich vorwölbenden Kehle; und Blut rann über das Metall. »Sag mir, wohin deine Freunde gelaufen sind, und ich werde dein wertloses Leben schonen.«
Das Messer saß Tarasios immer noch an der Kehle, doch nun umspielte ein selbstbewusstes Lächeln seine Mundwinkel. »Mein Leben, wie du das nennst, ist bereits gerettet. Ich bin frei.« Dem Schmerz trotzend, drückte er den Kopf nach unten und starrte seinem Verfolger direkt in die Augen. »Ich werde dir nicht mehr sagen. Tu, was du tun musst.«
Der Soldat wartete nur noch einen Augenblick. Der Mann würde ihm nichts bringen – nichts außer Verzögerungen, Ablenkungsmanöver und ketzerisches Gelaber. Das Unvermeidliche noch länger hinauszuzögern lohnte nicht.
Mit einer kraftvollen, schnellen Bewegung zog der Soldat den Dolch scharf nach rechts und durchtrennte die Halssehnen, Stimmbänder und Arterien.
Tarasios’ Augen quollen hervor, aber er wandte den Blick nicht vom Gesicht seines Angreifers ab. Während ihm das Blut aus der klaffenden Wunde schoss, beobachtete er, wie die Welt um ihn herum in friedvolle Schwärze versank. Er war bereits frei.
Zwanzig Minuten später: Ein neunzehnjähriger Landsmann von Tarasios setzte seine fieberhafte Flucht fort, obwohl er fast am Ende seiner Kräfte war. Die Sonne begann schon hinter den fernen Dünen unterzugehen, doch Eunomius wusste, dass die Abenddämmerung ihm kaum einen Vorteil bot. Die Verfolgung seiner Leute war von der Regierung autorisiert worden, und die Offiziere hatten Pferde, Waffen und äußerst gut ausgebildete Soldaten zur Verfügung. Sie würden ihm dicht auf den Fersen sein. Er betete nur, dass Tarasios es geschafft hatte, sie lange genug aufzuhalten, damit er, Eunomius, die Zeit bekam, die er brauchte.
Bevor sie ihn fanden, musste der Schlüssel versteckt werden. Das allein zählte. Die unwissenden Soldaten wollten nur seine Brüder – all jene, die Tarasios und dessen Wahrheiten gefolgt waren. In ihrem armseligen Wunsch, das Imperium von unerwünschten Glaubensvorstellungen zu säubern, hatten sie nicht die leiseste Ahnung, was tatsächlich auf dem Spiel stand. Heute würde Eunomius diese Unwissenheit zu seinem Vorteil nutzen. Solange er nur den Schlüssel verstecken konnte, würde es Eunomius egal sein, was sie mit seinem Körper anzustellen gedachten.
Seine Lungen brannten von der Anstrengung, als er endlich an die Stelle kam, die von der Gruppe zwei Kalenden zuvor ausgewählt worden war: zu einer Zeit also, bevor sich ihre Reihen durch die Verfolgungen so stark und unaufhaltsam gelichtet hatten. Eunomius lief nun langsamer. Vor ihm lag das ideale Versteck, eines, das die Sicherheit des Schlüssels über Jahre – sogar über Generationen hinweg – gewährleisten würde. Eben so lange, wie es notwendig war.
Eunomius verschnaufte. Als er anschließend zum Eingang hochkletterte, ließ er sich nicht von den trügerischen Bildern leiten, die seine Augen ihm lieferten, sondern von seiner Erinnerung. Dann trat er in die Dunkelheit der Höhle. Er suchte sich seinen Weg durch die Schwärze, indem er mit den Fingern die Wand abtastete, und gelangte schließlich zu dem Spalt im Fels, von dem er wusste, dass er da war. Er kniete sich nieder, griff unter seinen Umhang und holte den kleinen Krug hervor, der das kostbare Objekt barg. Nachdem er ihn andächtig an die Stirn gedrückt hatte, schob er den Krug so tief in den Spalt, wie sein Arm es erlaubte, und legte ihn dort ab.
Kaum hatte er den Arm wieder herausgezogen, erstarrte er plötzlich in seiner Bewegung. Er konnte hören, wie draußen Männer näher kamen. Sie hatten ihn gefunden. Bald schon würde sein Leib ihnen gehören.
Trotz der völligen Dunkelheit schloss Eunomius die Augen, hob die Hände in Schulterhöhe und murmelte ein vertrautes Gebet. Ein Gefühl des Friedens überkam ihn. Seine Initiation lag erst zwei Jahre zurück; damals war ihm die Welt noch wärmer und toleranter erschienen. Er hätte nie gedacht, dass die endgültige Befreiung auf diese Weise hinausgezögert und er eine derart entscheidende Rolle dabei spielen würde, sie für die Nachgeborenen zu bewahren. Aber so war das in der vergänglichen Welt und diesem sündigen, elendigen Leben. Ihm war die Ehre zuteilgeworden, für eine höhere Sache zu kämpfen.
Als er das Gebet beendet hatte, schlug Eunomius die Augen auf und erhob sich. Entschlossen tastete er sich zum Eingang der Höhle zurück. Nach der völligen Dunkelheit blendete ihn sogar die schwache Helligkeit der Abenddämmerung. Er nahm sich einen Augenblick Zeit, die rasch dahinschwindenden Strahlen in sich aufzunehmen, bevor er nach unten zu klettern begann – weg vom Eingang. Schließlich stellte er sich an einer dunklen Öffnung im Fels hin, vor der die Männer ihn finden würden.
Kurz darauf waren sie da. Nachdem Eunomius sie bislang nur gehört hatte, konnte er jetzt die näher kommenden Soldaten auch sehen, während er auf dem winzigen Felsvorsprung nicht von der Stelle wich. Die Gruppe versammelte sich unterhalb von ihm, und aus den Augenwinkeln nahm Eunomius die Bewegungen von zwei Männern wahr, die den Fels hochkletterten, um zu beiden Seiten von ihm Stellung zu beziehen.
Es war vollkommen. Er war für seine Freiheit bereit.
Als er zu der Schar hinunterblickte, traf sein Blick den eines größeren Soldaten. Der Mann stach durch seine Kleidung hervor, die ihn als Anführer auswies. Eunomius konzentrierte sich ganz auf den Befehlshaber des Trupps, holte tief Luft und schrie mit aller Kraft das einzige Wort heraus, das wahrhaft von Bedeutung war.
»BEFREIUNG!«
Noch ehe das Echo seines Schreis vom Felshang hinunter zum Wüstensand gehallt war, tauchte rechts von ihm ein Schwert auf. Es glitzerte einen Moment in der Abendsonne und trennte dann mit einem kurzen Aufblitzen seinen Kopf vom Leib und sein Leben von der Liederlichkeit der irdischen Welt.
Jetztzeit – vor acht Monaten
Albinus saß in dem dunklen, abgeschiedenen Raum und zitterte am ganzen Leib, sein ganzer Körper war in Aufruhr. Er könnte die Lampen einschalten – in dem fensterlosen Raum würden sie ihn nicht verraten –, doch die Dunkelheit fühlte sich sicherer an. Er hielt das schnurlose Telefon fest an die Wange gepresst. Die abgerundete Kante des Geräts drückte hart gegen seinen Kiefer, der Wählton dröhnte ihm im Ohr. Schweiß rann über sein Gesicht, tropfte ihm von der Nasenspitze und ließ das Telefon in seiner Hand glitschig werden.
Was habe ich getan? Was tue ich da?
Er war entsetzt, aber er hatte offenbar keine andere Wahl. Was da geplant wurde, war zu schrecklich – die Konsequenzen schlicht unfassbar. Sein Gewissen würde ihn niemals in Ruhe mit der Schuld weiterleben lassen, wenn er nicht zu jemandem Kontakt aufnahm, der dies noch aufhalten konnte, bevor es begann.
Die Befreiung durfte nicht zu solch einem Preis erworben werden.
In der Dunkelheit faltete er den Zettel auseinander, auf den er die Nummer der FBI-Hotline gekritzelt hatte, und frischte sein Gedächtnis auf; die grüne Hintergrundbeleuchtung der Telefontastatur verbreitete ausreichend Licht, um die Ziffern auf dem Blatt erkennen zu können. Einen Augenblick später tippten seine Finger nervös auf die Tasten.
Das Telefon klingelte ein Mal. Zwei Mal. Beim dritten und vierten Läuten begann sich sein Puls extrem stark zu beschleunigen. Da muss doch jemand rangehen. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er keine zweite Chance für den Anruf haben würde.
Nach dem sechsten Klingelton wurde die Verbindung endlich hergestellt. Albinus stockte der Atem.
»Sie sind mit dem FBI verbunden …«
Ihm sank das Herz. Eine Computerstimme. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hätte sich darauf einstellen sollen, wurde ihm mit einem Mal klar, doch sich im Nachhinein deswegen zu schelten barg die Gefahr, sich der Verzweiflung hinzugeben und alle Hoffnung fahren zu lassen.
Er durfte seine einzige Hoffnung nicht aufgeben.
Als die Ansage beendet war und ein lang gezogener Ton ihm signalisierte, dass er mit seiner Nachricht beginnen konnte, haspelte Albinus seine bangen Worte ins Telefon. Er hatte sich auf ein Gespräch vorbereitet, nicht auf einen kurzgefassten Monolog.
»Hier ist, hier ist … Mein Name ist nicht wichtig. Ich habe Informationen … über einen Anschlag. Chicago. Etwas Schreckliches … von der Kirche der Wahrheit …« Er keuchte; der Atem schien ihm zu stocken, die Sprache unzureichend zu sein, um die gewaltige Bedeutung seiner Botschaft angemessen auszudrücken. »Bald wird etwas Schreckliches passieren. Sie müssen das stoppen.«
Die Führungsriege war zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengetreten. Der Große Anführer hatte seinen Platz eingenommen, und seine engsten Berater waren bei ihm versammelt, um sich mit dem Verrat zu befassen, der die Jahrzehnte währende Vorbereitung zu gefährden drohte. Das nur noch wenige Monate entfernte Datum stand fest, und es war symbolträchtig und mit viel zu viel Bedeutung beladen, als dass sie davon hätten abrücken können. Rund um den Erdball waren die notwendigen Maßnahmen bereits im Gange.
»Es ist Albinus«, sagte einer der Brüder zögernd. Er stieß den Namen zwischen schmalen Lippen hervor, sein italienischer Akzent kämpfte mit dem für ihn seltsamen, fremdartigen Ausdruck.
»Er war schon immer willensschwach«, fügte ein anderer hinzu, dessen spanischer Tonfall zu dem italienischen einen merkwürdigen Kontrast bildete. »Aber wir hätten doch nie gedacht, dass er so weit gehen würde.« Zunächst senkte er enttäuscht seine breiten Schultern, dann spannten sie sich vor Wut.
»Wie weit genau?« Der Große Anführer achtete darauf, dass seine Stimme fest und ruhig klang. Er konnte es nicht brauchen, dass bei den anderen die Wut zulasten der Konzentrationsfähigkeit die Oberhand übernahm.
»Er ist zum FBI gegangen.« Der Mann, der dies sagte, stand ihm direkt gegenüber und hielt die Arme fest vor der Brust verschränkt. Falls er überhaupt irgendeine Emotion empfand, so zeigten das seine Gesichtszüge nicht. »Das hat uns der interne Kontakt bestätigt. Er hat heute Morgen das FBI angerufen und einen Tipp gegeben. Nannte unseren Namen. Erwähnte einen Anschlag. Sie werden auf der Hut sein.«
Die Worte verstärkten die Anspannung noch, die nur von dem Italiener unterbrochen wurde, der mit eher ängstlichem denn erzürntem Blick aussprach, was das offensichtlich bedeutete. »Unser Geheimhaltungsschirm ist zusammengebrochen. Dieser ›Schleier der Anonymität‹, wie du das nanntest – er ist weg. Andato.«
Der Große Anführer dachte über das Gesagte nach; ein leichtes Pulsieren seiner Wangen war der einzige Beleg dafür, dass dahinter seine Zähne mahlten. Die unwiderstehliche Vitalität seiner Gesichtszüge – intensive Augen unter Brauen, deren sanfte Bögen Weisheit und Erfahrung verrieten, und Wangenknochen, die stark genug ausgeprägt waren, um Macht anzudeuten, ohne jedoch so kantig zu sein, dass sie auf einen bösartigen Charakter hinwiesen – schien nun hinter einem Vorhang der Konzentration verborgen zu sein.
Schließlich sah er seine Männer an.
»Albinus muss aufgehalten werden. Heute Abend noch. Zieh den Araber hinzu, wenn du ihn brauchst. Wir können nicht zulassen, dass dieser Mann den Behörden noch mehr erzählt, als er schon gesagt hat.« Er hatte sich direkt an den Italiener gewandt, dessen Enttäuschung sich sichtbar in eine Entschlossenheit wandelte, die jener des Großen Anführers in nichts nachstand.
»Sei nicht sanft zu ihm. Zeig ihm, was mit denen passiert, die einer gerechten Sache abtrünnig werden.«
Das Gesicht des schlanken Mannes veränderte sich augenblicklich; er zeigte nun eine freudige Miene. Er wusste, mit diesem Befehl hatte er freie Hand darüber, wie viel Schmerz und Leiden Albinus’ Hinrichtung vorausgehen sollten. Er stand zusammen mit drei anderen auf; alle nickten ehrerbietig und wandten sich zum Ausgang.
Der streng blickende Mann, der dem Anführer gegenüberstand, rührte sich nicht.
»Und unser Plan?«, fragte er. »Unsere Sache?«
Der Große Anführer blickte ihm lange in die Augen. Seine eigenen hatten ihre gewohnte Intensität wiedergefunden.
»Es muss ein anderes Vorgehen ausgearbeitet werden«, antwortete er. Seine Zuversicht war nicht erschüttert.
»Das Schweigen ist nicht mehr länger unser Verbündeter. Es ist an der Zeit, neue Freunde zu gewinnen.«