Kapitel 10

Hays Mews, London

»Emily, mein Gott!«, rief Michael, als er ihr Londoner Heim betrat und sie vor der Couch stehen sah. »Es tut mir so schrecklich leid.« Er eilte zu ihr hin und schloss sie ganz fest in die Arme. »Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll.«

»Ich auch nicht.« Emily drückte sich an ihn, der körperliche Trost ging tiefer, als Worte es vermochten. Als sie sich von ihm löste, sank sie auf die Couch.

Michael setzte sich neben sie und hielt ihre Hand beruhigend in seiner. Mit der anderen Hand strich er ihr durch das schulterlange Haar, das sie nach den Schrecken der letzten Nacht noch immer nicht gekämmt hatte.

Um sie herum schloss das verbliebene Personal des Morddezernats und der Spurensicherung die Arbeit in dem vornehmen Haus ab. Das Heim von Michaels Familie in Hays Mews war ein Überraschungsgeschenk für das Paar nach der Hochzeit gewesen – ein Anreiz, wie Michael und Emily gemutmaßt hatten, damit sie regelmäßig nach England zu Besuch kamen. An diesem Morgen wirkte es kalt und steril, und die Forensiker in ihren Papieroveralls trugen das ihre zur schrecklichen Atmosphäre eines Heims bei, das zu einem Schauplatz des Verbrechens geworden war.

Emilys Kummer war nicht zu übersehen, und die gerötete zarte Haut rund um ihre Augen ließ erkennen, dass sie fast den ganzen Morgen hindurch geweint hatte – auch wenn jetzt die Tränen versiegt waren. Und Michael stand nun das plötzliche Gefühl der Schuld ins Gesicht geschrieben. Ausgerechnet in einer der Nächte, die er für eine Übernachtung im Museum gewählt hatte, war so etwas passiert: Als er zwischen der Arbeit am späten Abend und am frühen Morgen versucht hatte, auf der Liege in seinem Büro mit steifen Gliedern ein paar Stunden Schlaf zu finden …

»Mir sind die Tränen ausgegangen«, verkündete Emily und brach so das unbehagliche Schweigen. »Es ist, als wären meine Gefühle taub geworden, Mike.«

»Du hast einen Schock hinter dir. Du brauchst weiß Gott einige Zeit, Em, um das alles zu verarbeiten.«

Ihr emotionaler Zustand war nur schwer vorstellbar. Emily und ihr Cousin hatten sich nahegestanden, in einem Maße, wie Michael es bei Verwandten, die nicht dem engsten Familienkreis angehörten, nur selten erlebt hatte. Obwohl er erst bei der eigenen Hochzeit Andrew begegnet war, hatte er schon vor langer Zeit herausgefunden, warum Emilys Liebe für ihren Cousin so stark war. Andrew war umgänglich, von allem und jedem jungenhaft begeistert und doch auch überraschend tiefgehend und überwältigend fürsorglich. Michael hatte begonnen, ihn in mehr als nur rechtlichem Sinne als Teil der eigenen Familie zu betrachten, und in Andrew den willkommenen Bruder gefunden, den er nie gehabt hatte.

Er wusste, sein augenblicklicher Schock würde schrecklicher Trauer weichen. Emily musste …

Er drückte ihre Hand noch fester – der Ersatz für die Worte, die er nicht finden konnte.

»Michael«, sagte Emily schließlich, hob den Kopf und sah ihm direkt in die Augen, »an diesem Morgen ist etwas geschehen, das ich nicht verstehe.«

Er wusste nicht, wie er antworten sollte. Verlust, Trauma … das waren Dinge, die über das bloße Verstehen hinausgingen.

»Die Männer, die eingebrochen sind und Andrew getötet haben …«, fuhr Emily fort, »die waren hinter dem Manuskript her, das ich hier im Haus hatte.«

»Das hast du schon am Telefon gesagt.«

»Sie haben ihn umgebracht … wegen eines Manuskripts!« In Emilys Wangen kehrte die Farbe zurück, als sie diesen Gedanken nochmals aussprach, und es war ein Rot, das zu der Wut in ihren Worten passte. »Für ein Manuskript zu töten … Das ergibt doch keinen Sinn.«

Michael konnte sehen, wie in ihrem Gesichtsausdruck die Gefühle wechselten: Trauer, Wut, Zorn, Kummer – sie alle zeigten sich nacheinander mit wachsender Intensität in ihrer Mimik.

Plötzlich wurde ihr Blick schärfer.

»Sie nannten es eine Karte«, sagte sie, fast wie zu sich selbst. »Eine Landkarte. Das war wichtig für sie.«

»Karten erregen das Interesse, Em. Vielleicht glaubten sie, es würde sie zu irgendetwas führen.« Michael versuchte unterstützend zu klingen. »Die Diebe könnten alles Mögliche sein. Schwarzmarkthändler. Schatzjäger.«

Die Worte riefen eine Erinnerung wach, und dann war Emilys Kopf mit einem Mal voller Bilder von den Schatzsuchen ihrer Kindheit, die Andrew für sie veranstaltet hatte. Damals hatte er kleines Spielzeug und Süßigkeiten zwischen Brettern in einer Scheune oder auf den Ästen eines Baumes versteckt und sie mit selbst verfassten Rätseln im Stil von Dr. Seuss’ Gedichten zu ihrem Preis geführt.

Ihre Augen wurden feucht, doch sie wandte sich voller Entschlossenheit Michael zu.

»Das ergibt keinen Sinn, Michael. Das Manuskript war keine Karte.«

»War keine Karte?«

»Es war ein Text, sonst nichts.« Eine Träne löste sich von Emilys rechtem Lid und lief ihr über die Wange, aber sie änderte ihren Blick nicht.

»Em, es tut mir so leid. Dass sie Andrew infolge eines … eines Irrtums getötet haben …« Das schien die brutale Tat nur noch schlimmer zu machen.

Emily presste die Augen zu, Zorn und Kummer waren beinahe zu viel. Doch obwohl diese Gefühle sie zu überwältigen drohten, war da eine deutliche Erinnerung in ihrem Bewusstsein. Die Erinnerung, wie einer der Eindringlinge das Manuskript in Zweifel zog, als er erkannte, dass es sich nur um Text handelte – und wie der zweite Mann sich absolut sicher war, dass es mehr darstellte.

Als sie die Augen wieder aufschlug, waren sie rot, aber ihr Blick entschlossen.

»Nein, das war kein Irrtum.«

Michael versuchte, ihre Trotzhaltung zu verstehen. »Aber wenn es doch keine Karte war?« Er ließ die Frage in der Luft hängen.

Emily setzte sich ein wenig nach vorn.

»Manchmal ist mehr an einem Dokument, als für das Auge sichtbar ist.«

Der verborgene Schlüssel
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