Kapitel 73
Montelaguardia, Italien, im Jahre des Herrn 1756
»Es ist Zeit«, knurrte die Wache. Der Mann war schmutzig und korpulent, seine Konturen wurden von dem dämmrigen Licht im dahinter befindlichen Gang umrahmt. »Steh auf.«
Er trat in die dunkle Zelle und sperrte Mario Teragestes Fußfesseln auf, dann packte er ihn fest bei den Handgelenken und schubste ihn zur Tür.
Mario hatte seit seiner Verhaftung gewusst, dass seine Hinrichtung bald erfolgen würde. Seit er dies als Tatsache akzeptiert hatte, war er von stillem Frieden erfüllt. Es war ihm gelungen, sein kleines Buch zu verstecken, bevor die Beamten ihn festgenommen hatten, und er hatte eine Botschaft an die unbekannten Brüder im übrigen Europa geschickt. Er konnte nicht mehr tun, als darauf zu vertrauen, dass sie eines Tages den Weg zu seinem Buch finden würden – und dass, wenn sie es dann in Händen hielten, das jahrhundertealte Wissen um den steinernen Schlüssel und die heiligen Gebete nicht verloren wäre.
Alle Vermutungen Marios hatten sich als wohlbegründet erwiesen. Nach dem Großen Erdbeben, das am 1. November des letzten Jahres Lissabon erschüttert und die Stadt am Allerheiligentag dem Erdboden gleichgemacht hatte – es schien sich auf die Menschenmassen an Gläubigen zu konzentrieren, die sich in den vormals großartigen und nun völlig zerstörten Kirchen Lissabons versammelt hatten –, war die Stimmung in der Bevölkerung in Verzweiflung umgeschlagen.
Die anschließenden Nachbeben hatten sich Tausende Kilometer weit ausgebreitet. Selbst in Italien waren die Auswirkungen dramatisch. Das Beben der Erde in Montelaguardia war deutlich zu spüren, aber nicht das unheilvollste Ereignis gewesen. Dies blieb den Feuern des Vesuvs vorbehalten, der so aktiv und so ein wichtiger Teil der italienischen Landschaft war. An Allerheiligen, als die Welt gebebt hatte, war er jedoch unheilvoll verstummt. Der große Berg brach nicht mehr aus.
Die Menschen begriffen natürlich das Erdbeben und seine Nachwirkungen als Zeichen Gottes. Die Schar der Heiligen, die diese grimme Katastrophe an ihrem Gedenktag gesandt hatten, waren eindeutig erzürnt, wenn auch das genaue Objekt ihres himmlischen Zorns recht unterschiedlich war – es hing davon ab, wen man fragte. Vielleicht waren sie erzürnt über die Politiker, vielleicht über das Königshaus. Doch am verbreitetsten war die Meinung, der Himmel sei ergrimmt über die Sektierer – über jene, die zu glauben wagten, was man nicht glauben sollte, und die den Glauben des Landes zu spalten drohten. Was sonst konnte das unheilverkündende Datum bedeuten, die augenscheinliche Konzentration auf religiöse Bauwerke und die kataklysmischen Folgen des Erdbebens!
Seitdem hatten die Menschen mit einem Monat für Monat wachsenden Eifer ihre Säuberungsaktionen gegen die religiösen »Abweichler« verstärkt, die den göttlichen Zorn über sie gebracht hatten, und nirgendwo war die Verfolgung schlimmer als im Herzen Italiens.
Die Verhaftung von Talano war tatsächlich der Anfang vom Ende in Montelaguardia gewesen. Seine öffentliche Hinrichtung hatte dies bestätigt.
Marios Hinrichtung würde der Höhepunkt sein.