Kapitel 22

Britisches Museum, London

Michael spürte die gleiche Aufregung wie immer, wenn er durch den breiten klassizistischen Eingang das Britische Museum betrat, und führte Emily rasch durch das reich ausgeschmückte Foyer und in den Großen Hof, der mit seiner Kuppel aus 1656 Glastafeln der größte überdachte öffentliche Platz Europas war. Er lotste sie um den runden Lesesaal herum, der sich in der Mitte des Großen Hofs befand, und durch eine scheinbar endlose Reihe von Ausstellungsräumen, bis sie schließlich vor einer unscheinbaren Tür anlangten.

»Im Büro werden die meisten nach wie vor an der Katalogisierung des neuen Fundes vom Nil arbeiten«, bemerkte Michael und zog eine Schlüsselkarte durch den Scanner an der Tür. Es gab kein großes, offizielles Schild, sondern nur ein kleines in der Nähe des Kartenlesegeräts, dem zu entnehmen war, dass dies der Eingang in die Arbeitsräume der Abteilung »Altägypten und Sudan« war. Michael wartete darauf, dass sich das Schloss öffnete. Als die Tür endlich aufging, verschwanden er und Emily aus dem Blick einer Öffentlichkeit, die ihr Kommen kaum zur Kenntnis genommen hatte, da die Aufmerksamkeit der Besucher von den Pharaonenstatuen und jahrtausendealten Wandreliefs gefesselt war.

»Das bedeutet, dass sich niemand von der Abteilung im Labor aufhält«, fuhr Michael fort. »Dies sollte dafür sorgen, dass wir bei den Geräten relativ ungestört sind.« Er legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter und zog sie in seine Welt.

Der Abteilungskorridor war schmal und wenig bemerkenswert: Hier bestand nicht die Notwendigkeit, Besucher durch Stil oder gepflegtes Ambiente zu beeindrucken, und so war der Flur nur ein funktioneller Zugang zu einer Reihe von Büros und Arbeitsräumen. Michaels Büro, die dritte Tür auf der rechten Seite, wurde flankiert von denen seines Abteilungschefs William Gwyth und eines Kollegen, der ebenfalls ein Stipendium hatte. Den Korridor hinunter gab es eine Reihe weiterer Türen, hinter denen andere Mitarbeiter – von Wissenschaftlern und Katalogbearbeitern bis hin zu Webdesignern – ihre Arbeitsräume hatten.

Emily war bislang nur ein einziges Mal, kurz nach Michaels Ernennung, in der Abteilung gewesen – und dann auch nur, um sich sein Büro anzusehen. Die anderen Räumlichkeiten kannte sie nicht.

»Es ist geradeaus, Em, genau am Ende des Flurs«, sagte Michael und bedeutete ihr, weiterzugehen.

Einige Augenblicke später hatten sie zwei Rauchglastüren erreicht, die eindeutig neuer als die anderen im Flur waren. Die Aufschrift »Forschungslabor« war auf die linke Tür geätzt, und an der Seite befand sich ein weiteres Kartenlesegerät. Michael schob erneut seine Karte durch, gab diesmal jedoch auch einen sechsstelligen Zahlencode in eine Tastatur ein.

»Die Sicherheitsvorkehrungen sind aufgrund der Apparate hier im Inneren ein bisschen strenger als bei unseren Büros.«

Ein elektronisches Piepen signalisierte, dass ihnen Zugang gewährt wurde. Die Verriegelung der Doppeltür öffnete sich, und die Lampen im Raum dahinter schalteten sich automatisch ein.

In dem Moment, als sie eintraten, konnte Emily sehen, warum es zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen gab. Das Labor war das reinste Lager für Hightech-Geräte.

»Draußen in den Ausstellungssälen haben wir vielleicht eine der feinsten Sammlungen an Altertümern weltweit«, merkte Michael an, als sie hineingingen, »aber hier drinnen haben wir die modernsten technischen Apparaturen, um sie zu studieren.«

Selbst angesichts der augenblicklichen Situation gab die Kulisse Michael neue Energie, und er war stolz auf diese Ausstattung. Er hatte damit zu kämpfen gehabt, die Dimensionen der Museumssammlung zu begreifen, als er das erste Mal hier gewesen war: mehr als sieben Millionen Artefakte von jedem Kontinent des Globus – allein seine Abteilung besaß über hundertvierzig Mumien, Sarkophage und Tausende von Objekten, welche die rund drei Kilometer langen öffentlichen Ausstellungsräume zu füllen halfen. Aber die technische Forschungsausstattung war fast genauso eindrucksvoll.

»An der Wand da hinten befindet sich das Röntgen-Equipment«, erklärte er und deutete über den weißen Linoleumboden zum anderen Ende des Raumes. »Der große Aufbau dort ist die Röntgenröhre samt Belichtungsgerät. Da drüben stehen die spektrografischen Geräte …« – er wies auf die Multispektralkamera, die das Museum selbst gebaut hatte – »… und auf der Seite des zentralen Arbeitstisches steht eines unserer neuesten Spielzeuge: der CRS.«

»CRS?«

»Computer-Radiografie-Scanner. Unser CRx Flex hat diesen Sommer gerade ein Upgrade bekommen. Der große Bruder der älteren, auf Film basierenden Röntgenbildentwicklung.«

Emily nahm das alles in sich auf; ihre eigene Forschungsarbeit brachte sie nur selten mit derartigem Gerät in Kontakt.

»Und all das funktioniert auch?«

»Alles, mit Ausnahme von dem Ding da in der Ecke«, antwortete Michael und zeigte auf ein sperriges, nicht identifizierbares Gerät, das mit einer durchsichtigen Plastikplane bedeckt war. »Und das auch nur, weil ich nicht weiß, wie es funktioniert.«

»Keine Sorge.« Emily versuchte, sich zu einem aufmunternden Blick zu zwingen; sie war sich immer noch unsicher, was sie von ihrem Besuch hier halten sollte. »Wenn wir über die Gerätschaften hinausgehen müssen, deren Bedienung du kennst, dann wird es wesentlich mehr Zeit beanspruchen, als wir zur Verfügung haben, um das zu finden, was vielleicht in dem Manuskript verborgen ist.« Sie holte die Dokumentenmappe aus ihrer Tasche und schlug sie auf einem der Arbeitstische in der Mitte des Raumes auf.

Michael stellte sich neben sie und begann, über die Oberfläche des Manuskripts nachzudenken.

»Wenn da etwas verborgen ist, wird es etwas Stoffliches sein.«

»Offenkundig«, erwiderte Emily ein bisschen gereizt. »Wenn es allein auf den Text ankäme, hätten sie sich auch mit einer Kopie begnügen können. Und eingescannte Fotos des Manuskripts sind seit mehr als einem Jahr online verfügbar.«

»Physisch betrachtet sieht es sehr sauber aus. Keine Anzeichen für ein Überschreiben.«

»Ein Palimpsest? Nein, das wäre zu offensichtlich!« Die Worte waren kaum ausgesprochen, als sich Bedauern in Emilys Miene zum Ausdruck brachte. Michael war nicht schuld an dem, was geschehen war. Er hatte ihre Wut oder Herablassung nicht verdient. »Es tut mir leid, Mike. Es ist einfach nur …«

»Mach dir keinen Kopf«, unterbrach Michael sie. »Ich versteh schon.« Er legte ihr eine Hand sanft an die Wange, um seine Fürsorge für sie zu bekunden.

Emily holte tief Luft und bezwang ihre Erbitterung. Sie zog sich ein paar weiße Baumwollhandschuhe aus einer Schachtel auf dem Tisch über und hob das Blatt hoch.

»Um ein Palimpsest herzustellen, würde ein Schreiber mit einer scharfen Klinge die ursprüngliche Tinte oder Farbe von dem Dokument abschaben, sodass er das Pergament für einen neuen Text verwenden könnte.«

Sie hielt das Manuskript hoch und positionierte eine helle Untersuchungslampe so, dass sie durch das Blatt schien.

»Das Interessante an Palimpsest-Manuskripten ist, dass es beim Wegkratzen des ersten Texts nie gelang, das Material vollständig zu entfernen – selbst dann nicht, wenn das Pergament im Nachhinein abgewaschen wurde. Wenn man genau hinsieht, kann man meistens noch Spuren des ursprünglichen Texts erkennen. Auf diese Weise sind schon einige erstaunliche Dinge entdeckt worden. Der Vatikan besitzt eine Abschrift vom Kommentar des heiligen Augustinus zu den Psalmen, der auf dem Werk De Republica von Cicero geschrieben wurde. Dann gibt es noch das berühmte Archimedes-Palimpsest im Walters Art Museum – ein ganzes Gebetbuch, das auf zwei antiken wissenschaftlichen Traktaten geschrieben wurde, die der Nachwelt ansonsten unbekannt geblieben wären.«

Sie wies auf den Rand des Blatts und danach auf mehrere leere Segmente zwischen den Absätzen und am Ende der kürzeren Zeilen. »Da – in diesen Leerräumen verraten Palimpsest-Manuskripte zumeist ihre Vergangenheit. Beim Archimedes-Palimpsest zum Beispiel kann man das darunter Geschriebene ohne Hilfe der modernen Technik kaum entziffern, doch an den Rändern und Leerräumen des Gebetbuchs kann man bei genauem Hinsehen noch immer die Schatten einer älteren Handschrift und naturwissenschaftlicher Zeichnungen ausmachen.«

»Aber hier ist kein älterer Text darunter«, bemerkte Michael: Das Lampenlicht schien durch das Blatt, ohne auch nur eine Spur von Phantombuchstaben zu offenbaren.

»Nein. Und überhaupt, es wäre auch kein guter Weg, eine geheime Karte oder sonst etwas zu verbergen. Der sichtbare Beweis für noch etwas anderes in dem Dokument würde Neugier hervorrufen – nicht gerade das, was man in der Regel will, wenn man Geheimnisse bewahren möchte. Palimpseste wurden aus Gründen der Sparsamkeit geschaffen, nicht zur Geheimhaltung.«

Mit einem Mal schien Emilys Entschlossenheit zu schwinden, ihr leerer, verstörter Blick kehrte zurück.

»Vielleicht wussten Andrews Mörder doch, was sie taten. Vielleicht befand sich ihre Karte nur auf der ersten Seite.«

Beinahe so etwas wie Qual brachte sich in ihrer Stimme zum Ausdruck, und Michael spürte, wie sie abglitt.

»Gib doch nicht gleich auf. Du hast im Haus erwähnt, dass dieses Manuskript in Wirklichkeit aus dem siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert stammen könnte, korrekt?«

»Das ist natürlich eine Schätzung.«

»Na schön, damit hätten wir doch möglicherweise etwas Spezifischeres, nach dem wir suchen können. In ganz Europa stand in jenen Jahrhunderten die Alchemie hoch im Kurs, und geheime Texte waren so etwas wie ein Charakteristikum der Zeit.«

»Alchemie?« Emily hob misstrauisch eine Augenbraue.

»Zumindest die Alchemie in ihrem praktischen, chemischen Sinne. Die Alchemisten glaubten vielfach, sie würden mit mystischen Elementen herumspielen; doch die praktische Alchemie war größtenteils nichts weiter als schlichte Chemie.«

Emily zog ihre Schlüsse aus seinen Bemerkungen. »Also bestünde eine bessere Möglichkeit, Text auf einer Seite zu verbergen, wohl darin, irgendeine Art von … unsichtbarer Tinte zu benutzen?«

»Warum nicht? Ein chemisches Gemisch, das mit bloßem Auge nicht zu sehen ist, das aber durch ein anderes chemisches Agens, das der Schreiber wie der betreffende Empfänger kennt, sichtbar würde.«

»In diesem Fall«, sagte Emily, die sich für diese Idee immer mehr begeistern konnte, »müssten wir nur nach einer Möglichkeit suchen, diese verborgene Tinte hervorzuholen.«

»Die einfachste Methode besteht darin, das Blatt einem Beschuss mit der Multispektralkamera auszusetzen«, führte Michael aus. »Die meisten chemischen Grundbestandteile aus alter Zeit wurden in viel konzentrierteren Dosen angemischt als heute. Ihre Signatur sollte stark genug sein, sodass eine gute Dosis des einen oder anderen Bandbereichs des Lichtspektrums sie zum Leuchten bringen sollte.«

Er hob das Manuskript wieder hoch und warf Emily einen entschlossenen Blick zu.

»Es ist Zeit, ein bisschen mit den Lampen herumzuspielen.«

Der verborgene Schlüssel
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