Kapitel 13
Hays Mews, London
»Es gibt eine zweite Seite?« Emilys Enthüllung traf Michael wie ein Blitzschlag.
»Andrew und ich haben sie uns gestern Abend angesehen«, antwortete sie. »Da du ja über Nacht wegen des Arbeitswochenendes für eure Neuzugänge im Büro warst, hatte er meine Aufmerksamkeit ganz für sich allein und konnte mich mit Fragen löchern. Du weißt doch, wie sehr er sich immer für unsere Arbeit interessiert hat.«
Trotz ihres Traumas war es Emily ein Trost, »unser« sagen zu können. Sie ging noch näher auf Michael zu. Dessen beruflicher Umstieg in die akademische Welt – und vor allem in die Alte Geschichte –, der nach ihren Abenteuern vor fünf Jahren erfolgt war, hatte eine willkommene geistige Verbindung zwischen ihnen beiden hergestellt. Es hatte sich gezeigt, dass er tatsächlich so gut war, wie sie erwartet hatte, und sie ertappte sich oft bei der Frage, ob er mit seinen Talenten nicht sogar ein bisschen schneller zu ihrem wissenschaftlichen Status aufschließen würde, als es ihrem Stolz lieb wäre. Aber heute, in diesem Augenblick, stellte diese Geistesverwandtschaft eine angenehme Unterstützung dar.
»Ich habe auf einige besondere Redewendungen und Wörter in dem Dokument hingewiesen«, sagte Emily. »Als wir damit fertig waren, habe ich es dort in die Schublade gelegt. Es war schon spät.«
Michael schaute auf den Dokumentenordner in Emilys Händen. Es handelte sich um eine speziell für die Aufbewahrung wertvoller Schriftstücke hergestellte Manuskriptmappe, die fast zweieinhalb Zentimeter dick und im Innern zum Schutz uralter Dokumente mit Schaumstoff ausgeschlagen war.
»Kann ich die Seite sehen?«, fragte er schließlich und wies auf die Mappe.
Emily trug sie zum Esstisch, wo sie sie vorsichtig aufschlug, und bedeutete Michael, ihr zu folgen.
Zwischen den Schaumstofflagen befand sich ein einzelnes Blatt vergilbtes Pergament mit einem sorgsam von Hand geschriebenen Text in mittelalterlichem Französisch. Wer auch immer der Verfasser gewesen war, er hatte für diese Arbeit dicke schwarze Tinte benutzt, die im Laufe der Zeit kaum verblasst war. Der Schreiber war sorgfältig vorgegangen: Noch immer konnte man die Spuren von schwach gezeichneten Linien vage erkennen – er hatte sie über das Blatt gezogen, um sicherzustellen, dass die Textzeilen gerade und gleichmäßig ausfielen.
Als Michael das Pergament prüfte, wuchs seine Neugier. Zu seiner Rechten stand Emily, und er sah, dass sich ihre Augen röteten, während sie etwas anblickte, das nun nicht mehr nur ein Gegenstand von historischem Interesse war. Dieses Blatt barg eine Verbindung zu den Männern, die Andrew getötet hatten. Und es war die einzige Verbindung, die sie hatten.
»Du kannst sehen …« – Emily trat näher heran und presste ihre Worte hervor in der Hoffnung, durch die Konzentration auf die Fakten verhindern zu können, dass sie völlig in ihren Gefühlen versank – »… das Skript ist in einem Stil gehalten, der im fünfzehnten Jahrhundert üblich war. Wir haben das Pergament analysiert und die Bestätigung erhalten, dass es ungefähr aus dieser Zeit stammt. Aber wir vermuten nach wie vor, dass es eine Fälschung ist. Ein Fälscher könnte Zugang zu älterem Material gehabt haben. Die molekulare Alterung lässt sich freilich nicht nachahmen.«
»Es ist in gutem Zustand, Em.«
»Ich weiß; und das ist überraschend, denn als es geschrieben wurde, war es offensichtlich kein fürchterlich wichtiges Dokument.« Emily deutete auf eine durchgekreuzte Textstelle mit einer Korrektur in der Mitte des Blatts, während sie im Geiste ihre Ausführungen mit Worten ergänzte, die sie nicht laut aussprach.
Ein unbedeutendes Dokument, dem Schreibfehler und allem anderen nach zu urteilen. Ausgerechnet wegen so etwas zu sterben …
»Eine Überschreibung?«, fragte Michael und untersuchte die Stelle genauer.
»Nur die eine … in einer Passage über eine Reihe von Läden auf einem städtischen Markt. Im Original steht da übersetzt ›zweiunddreißig Hände Südwest‹, aber das wurde durchgekreuzt und in ›fünfunddreißig‹ korrigiert. Bei einem offiziellen Dokument wäre so etwas nicht gestattet gewesen. Es könnte ein Entwurf gewesen sein oder etwas für den örtlichen Gebrauch.«
Schweinehunde.
Michael nickte mehrmals mit dem Kopf, um zu zeigen, dass er verstand. »Und der Text – was ist mit dem?«
»Eine ganz typische historische Betrachtung über eine Katharer-Gemeinde im Languedoc.«
»Katharer?«, wiederholte Michael und blickte von dem alten Dokument auf. Die schon wieder. Emily hatte sie bereits am Telefon erwähnt.
Michael hatte seine Gedanken noch nicht ganz ausformuliert, als er sich leise murmeln hörte: »Schwierig, darin nicht ein Muster zu sehen.«
Emily sah ihn forschend an. »Was meinst du?« Etwas in Michaels Gesichtsausdruck gab ihr einen Hinweis – auf das Aufblitzen eines Rätsels, dessen er sich nicht ganz sicher war.
Doch er fing sich wieder und erwiderte: »Ich denke nicht, dass ich darüber spekulieren sollte … angesichts deiner emotionalen Verfassung.«
Emilys Gesichtsausruck wurde sofort hart.
»Wage es nicht, mich wegen meiner ›emotionalen Verfassung‹ zu verhätscheln!«, blaffte sie. »Emotionen sind so ziemlich alles, was ich im Augenblick habe, aber wenn du mehr hast, wirst du mir das verdammt noch mal sagen!«
Michael steckte die Schelte still weg, da er merkte, dass er seine Worte schlecht gewählt hatte. Emily war nicht jemand, zu dem man herablassend sein konnte. Bei all ihren Stärken gab es eine Sache, die sie niemals akzeptieren würde, vor allem nicht von ihm.
»Es tut mir leid. Du hast recht. Aber vergiss nicht, es ist vermutlich alles nur ein Zufall, was mir gerade durch den Kopf geht.«
»Ich werde es nicht vergessen; aber jetzt sag es mir.«
»Seit Monaten, sogar noch heute Morgen«, begann Michael, dessen Körperhaltung zum Ausdruck brachte, dass die eigenen spekulativen Gedankengänge ihm Unbehagen bereiteten, »werde ich von einer Gruppe bearbeitet, die Zugang zu koptischen Texten des Museums haben möchte. Koptische gnostische Texte, die von verschiedenen Sekten des vierten und fünften Jahrhunderts handeln. An sich ist das nicht ungewöhnlich … Aber dann sagt heute Morgen mein Chef zu mir, ich soll den Fernseher anschalten, und da kommt ein Nachrichtenbeitrag über einen Kerl, der in den USA verhaftet wurde und sich selbst als ›gnostischer Terrorist‹ bezeichnet.«
Das hatte sie nicht erwartet. Emily spürte, wie ihr Puls etwas schneller schlug.
»Aber das ist drüben in den Staaten.«
»Ich weiß. Zufall, wie ich schon sagte. Doch genau am gleichen Morgen brechen Männer in unser Haus ein und stehlen ein Dokument, das von der Geschichte der Katharer handelt – einer französischen gnostischen Sekte.«
Drei merkwürdige Begebenheiten, alle dicht hintereinander, alle mit demselben Thema. Emily konnte erkennen, dass das faszinierend war; doch es war zu viel des Zufalls, um tröstlich zu sein, selbst wenn sie in ihrer Aufgewühltheit nach jedem Strohhalm griff.
»Die können nicht miteinander in Verbindung stehen«, behauptete sie. »Mein Manuskript handelt von den Katharern, die mit den ägyptischen Gnostikern nichts zu tun hatten. Sie lebten in einem anderen Teil der Welt, und das ein Jahrtausend später.«
»Aber sie sahen sich als Nachfolger dieser älteren Gruppierungen«, betonte Michael, der im Augenblick von den seltsamen Beziehungen zwischen den drei Ereignissen, die ihn am Morgen beschäftigt hatten, irgendwie fasziniert war. »Und sie vertraten dieselben Grundprinzipien des gnostischen Glaubens: die radikale Trennung von Körper und Geist, der Glaube an die erlösende Kraft eines wahren, geheimen Wissens. Und dann ist da noch die Anfrage, die ich heute Morgen ablehnte: ein Brief von einem Arthur Bell, der Einsicht in Manuskripte des Museums haben wollte, die sich genau mit diesen Themen befassen.«
Emily erstarrte, ihre Haut fühlte sich mit einem Mal kalt und feucht an.
»Was hast du da gesagt?«
Ihre Augen bohrten sich in seine, nun mit einem neuen Gefühl, das Michael dort lesen konnte, als wäre es ihr auf die Stirn geschrieben.
»Was genau meinst du?«, fragte er.
»Der Name von dem Mann, der dir geschrieben hat.«
»Arthur Bell«, wiederholte Michael.
»Die Karte …«, murmelte Emily, während sie nach einer Erinnerung suchte. »Sie sagten, die Karte sei das, was er brauchen würde.«
»Er?« Michael hatte keinen blassen Schimmer, was sie ihm zu verstehen geben wollte.
»Sie haben seinen Nachnamen nicht genannt.« Emily packte ihren Mann an den Schultern und drehte ihn zu sich herum. »Aber sie erwähnten seinen Vornamen. Ich kann ihn nicht vergessen. Der Name war Arthur.«