Kapitel 59
Die Höhle
»Was ist das?«, entfuhr es Chris als Nächstes.
Er setzte den Krug vorsichtig auf den Sandboden der Höhle und sah mit einem Ausdruck seltsamer Verwunderung auf ihn hinab. Sein Arm schmerzte von den starken Streckbewegungen, die notwendig gewesen waren, um das Artefakt herauszuholen. Er und die beiden anderen hockten sich um das Gefäß herum.
Emily und Michael konnten als Antwort nur Fachinformationen anbieten. »Normalerweise wurden Krüge wie dieser dazu benutzt, um Dokumente oder Sammlungen von kleineren Objekten aufzubewahren«, sagte Emily. »Das waren die Transportkisten der Antike. Der verborgene Schlüssel könnte alles Mögliche sein.«
»Aber die Antwort befindet sich in diesem Krug, richtig?« Chris deutete auf seinen Fund, während er sprach. Seinem Tonfall war zu entnehmen, dass er ein gewisses Maß an Stolz empfand.
»Scheint so.«
»Auf den ersten Blick gleicht er auffallend den Krügen, die in Nag Hammadi gefunden wurden.« Michaels auf die Historie ausgerichteter Verstand arbeitete auf Hochtouren. »Er ist zwar viel kleiner, aber er ist genauso konstruiert und auf die gleiche Weise versiegelt.«
»Ich erinnere mich, dass du mir erzählt hast, man hätte Angst gehabt, diese Krüge zu öffnen, weil sie versiegelt waren. Sollten wir wegen Dschinns und bösen Geistern das große Zittern bekommen?«
»Wir sollten uns eher Gedanken darüber machen, wie wir diesen Krug sicher transportieren, ohne ihn oder seinen Inhalt zu beschädigen. Vergiss nicht, er ist sehr lange Zeit nicht bewegt worden. Das Dokument mit der Karte war mindestens zwei, vielleicht drei Jahrhunderte alt. Aber der Gegenstand hier sieht viel, viel älter aus. Auf den ersten Blick würde ich sagen, dass er ungefähr aus dem vierten oder fünften Jahrhundert stammt.«
»Wir können ihn also nicht einfach öffnen und herausfinden, was drin ist?« Dieser plötzliche Gedanke war eine Enttäuschung für Chris, die ihn ernüchterte.
»Hier?«, entgegnete Michael. »Natürlich nicht! Wir sind doch keine Grabräuber. Wir müssen ihn in einer Umgebung öffnen, wo wir alles unter professioneller Kontrolle haben und sicher sein können, dass er dadurch nicht zerstört wird. Der Bitumen muss vorsichtig durchgeschnitten und dann der Deckel entfernt werden; und anschließend muss man den Inhalt, worum auch immer es sich dabei handeln mag, mit besonderer Sorgfalt handhaben.«
»Das wäre ideal, ja«, warf Emily ein. »Aber ich fürchte, wir haben heute andere Prioritäten.« Ohne jedes weitere Wort nahm sie mit beiden Händen den Krug und schmetterte ihn in einer schnellen Bewegung gegen die Felswand der Höhle.
»Em!«, schrie Michael erschrocken auf.
»Richtig!«, rief Chris höchst zufrieden und übertönte mit seiner Stimme Michaels Protest. »Genau das hab ich gemeint!«
Emily ignorierte das Entsetzen ihres Mannes und die übertrieben aufgeregte Reaktion seines Freundes. Der Krug war in ihren Händen in tausend Stücke zerbrochen, und die Scherben waren durch ihre Finger gefallen und lagen nun verstreut auf dem Höhlenboden. Das Geräusch des zersplitternden Tongefäßes hallte in der Kammer wider.
Doch etwas war in ihren Händen geblieben: ein flacher, polierter Stein. Oder genau genommen … kein Stein. Es war ein von Menschenhand gefertigtes Objekt – hergestellt aus einer anderen Sorte Ton als der Krug, in dem es gesteckt hatte. Die länglich-ovale, abgeflachte Oberfläche schimmerte im Licht der Taschenlampen, und Emily wischte sogleich den Staub weg, der sich durch ihre drastische Tat einen Moment zuvor darauf abgesetzt hatte.
Als sie mit der Hand den letzten Schmutz vom Stein abgeputzt hatte, blickte Emily auf eine Gruppe faszinierender Gravuren hinab, die dort eingeritzt waren. Vier konzentrische Ringe bildeten einen mehrschichtigen Kreis, der von dreiunddreißig Linien durchbrochen wurde, die von dessen Mitte wie die Speichen eines Rades strahlenförmig nach außen liefen. In jedes der neunundneunzig kleinen Segmente, die durch diese Linien entstanden, war in antiker koptischer Schrift ein anderer Buchstabe geritzt. In der Mitte der Gravur befand sich eine kleine Gruppe aus fünf Buchstaben, die über drei Ziffern geschrieben waren.

Emily starrte auf die Ritzungen; ihre Augen nahmen jede Einzelheit auf.
»Was zum Teufel ist das?«, fragte Chris schließlich.
»Das ist koptische Schrift«, antwortete Michael atemlos. Sein Schreck über Emilys Tat war dem Erstaunen gewichen.
Emily blickte weiterhin konzentriert auf die seltsame Inschrift des Steines.
»Ich bin nicht sicher, was das ist oder was es bedeutet«, fügte Michael hinzu. »Aber es bestehen ja wohl kaum Zweifel, dass es sich um das handelt, was Andrews Mörder und unsere Karte den steinernen Schlüssel nennen.«
Hinter der um den Stein kauernden Gruppe hallte durch die Höhle das unzweideutige Klicken einer Pistole, die gespannt wurde.
»Der steinerne Schlüssel ist genau das da«, war eine Stimme zu vernehmen.
Emily, Chris und Michael wirbelten herum, und das Licht ihrer Taschenlampen fiel auf einen Mann, den keiner von ihnen je gesehen hatte und dessen Pistole geradewegs auf sie zielte.
»Und jetzt«, sagte der Mann, »geben Sie ihn mir.«