Kapitel 62

Die Höhle

Die Explosion der Granate brachte die innere Kammer der Höhle mit einer nicht für möglich gehaltenen Wucht zum Erbeben. Risse bildeten sich in den Wänden, Felsbrocken stürzten von der Decke, und Emily, Michael und Chris wurden heftig durchgeschüttelt. Der Raum schien um sie herum auseinanderzufallen.

Obwohl er seinen Körper als Schutzschild für seine Frau benutzt hatte, war Michael davon ausgegangen, dass auch sie nicht überleben würde. Er hatte gedacht, das Felsgestein würde sich verschieben, zerbersten und sie alle in einem dunklen und tödlichen Grab unter sich begraben. Aber das Zentrum der Explosion hatte sich in der äußeren Kammer befunden, und so waren die Schäden bei ihnen glücklicherweise weniger schwer. Als die Geräusche des zerbröckelnden Gesteins verstummt waren, schob er sich hoch und lockerte den Griff seiner Hände, mit denen er Emilys Gesicht geschützt hatte.

»Bist du in Ordnung?« Er griff nach seiner Taschenlampe und blickte Emily in die Augen.

Sie starrte zu ihm hoch, der Staub in der Luft brachte sie zum Husten. Sie waren beide völlig verdreckt, ihre Haare und Kleidung voller Sand, Staub und kleiner Felsbruchstücke. Die Luft in der Höhle war wie ein grauer Nebel, und sie beide blinzelten ständig, um die Staubkörnchen von den Augen fernzuhalten.

»Mir geht es gut«, antwortete Emily. Dann begriff sie mit einem Mal, in welcher Lage sie sich befanden. »Er hat die Höhle zerbombt.« Ihre Augen wurden groß. »O mein Gott. Mike, überprüf die äußere Kammer.«

Michael stand auf und ging zum Eingang der inneren Kammer. Der schmale Spalt, der sie mit der äußeren Höhlenkammer verband, war völlig mit Felsbrocken zugeschüttet.

»Der Durchgang … ist … verschlossen.« Während er sprach, musste er husten. Er legte die Lampe auf einen Stein und untersuchte das Geröll mit den Händen. »Vollkommen blockiert.«

Sie saßen in der Falle. Und wo ist Chris?, dachte Emily. Ihr Verstand raste von einer schrecklichen Tatsache zur nächsten.

In diesem Moment hörten sie Chris husten. Die beiden gingen zu ihm. Er schien, wie schon vor der Explosion, bewusstlos zu sein, doch er war durch sie herumgerissen worden, sodass er nun auf dem Bauch lag.

»Leuchte mit der Lampe auf seine linke Seite. Ich nehme die rechte. Such nach der Schusswunde.« Michael packte Chris sanft, aber kräftig am Oberkörper und drehte ihn auf den Rücken.

Emily machte sich auf das Schlimmste gefasst, als Michael den Körper wendete. Es war nicht das erste Mal, dass sie einem Mann zu Hilfe eilte, nachdem er verletzt worden war, weil er vor dem falschen Ende einer Waffe gestanden hatte. Ihre Gedanken kehrten einen kurzen Moment zu der Begegnung vor fünf Jahren in einem Untergeschoss in Alexandria zurück. Dort hatte ein Mann namens Athanasius in ihren Armen ein unverdientes Ende gefunden, und das Erlebnis würde für immer in ihrem Gedächtnis eingebrannt sein. Sie erwartete, die Brust von Chris voller Blut zu sehen – dass sein grauer Rollkragenpullover sich rostbraun gefärbt hatte und mit Sand verklebt war, der an dem gerinnenden Blut haften blieb. Würde Michael den Tod seines Freundes verkraften? Er kannte Chris weitaus länger, als sie Athanasius gekannt hatte.

In dem Augenblick, als der Körper auf dem Rücken lag, blieb der von Emily erwartete Schock jedoch aus, stattdessen war sie verwirrt. Chris’ Brust wies keinerlei Anzeichen einer Schusswunde auf – kein Blut, kein Sand, überhaupt nichts. Nur der obere Abschnitt seines linken Arms wies Flecken in einer dunklen Farbe und den unverwechselbaren Schimmer von Feuchtigkeit auf – einer Nässe, die stoßweise von innen herausquoll.

Gott sei Dank, der Schuss hat seine Brust verfehlt. Mit einer Fleischwunde im Arm könnten sie fertigwerden, solange die Kugel nicht die Schlagader getroffen hatte.

Emily griff nach Chris’ Ärmel und packte den blutgetränkten Stoff genau unterhalb seiner Schulter. Er war an der Eintrittsstelle der Kugel zerrissen. Sie schob ihre Finger in den Riss und zog ihn kraftvoll auseinander.

Das Geräusch und der Ruck reichten, dass Chris das Bewusstsein wiedererlangte.

»Was ist los … Wo bin …?« Ihm schwirrte der Kopf, die Worte zu formulieren fiel ihm schwer.

»Schhh, bleib ruhig«, befahl Michael ihm. »Du bist immer noch in der Höhle in Ägypten. Du wurdest angeschossen.«

Chris stotterte etwas vor sich hin und versuchte, dem Wirrwarr in seinem Kopf wenigstens einen Anschein von Ordnung zu geben. Michael und Emily. Ägypten. Die Höhle. Der kleine Stein. Er begann die Erinnerungsfetzen an das, was sich ereignet hatte, kurz bevor er zu Boden gefallen war, langsam zusammenzusetzen. Der Eindringling. Ein Schuss.

»Dieser Schweinehund … hat wirklich auf mich geschossen!«, rief er schließlich aus. Er versuchte sich aufzusetzen, aber Emily drückte ihn fest auf den Boden.

»Zum Glück nur in den Arm«, sagte sie. »Ich bin zwar keine Ärztin, aber es sieht so aus, als hätte die Kugel dich nur gestreift. Du musst gerade noch rechtzeitig weggesprungen sein.«

»Aber ich bin zu Boden gegangen.« Chris blinzelte. »Bewusstlos. Ein bloßer Streifschuss an der Schulter bläst einem doch nicht das Licht aus.«

»Nein, das war die Wand«, erklärte Michael. »Nach dem Schuss bist du ziemlich heftig mit dem Hinterkopf gegen sie geschlagen. Bei deinem kleinen Kampf zwischen Stein und Schädel hat der Stein gewonnen.« Er strich Chris leicht über den Kopf, in der Hoffnung, dem Freund ein wenig auf die unbeschwerte Art und Weise zu trösten, wie dieser es selbst gerne tat; aber selbst diese sanfte Geste jagte dem FBI-Agenten einen zuckenden Schmerz durch den Körper.

»Behalt deine Hände bei dir!«, stöhnte Chris, als er wie unter der Folter zusammenfuhr. Er brauchte einen Moment, um von Neuem zu Atem zu kommen und sich wieder auf etwas konzentrieren zu können. Wenige Augenblicke später kehrte auch seine Energie zurück.

»Hast du dir meinen Kopf angesehen? Irgendwelche ernsthaften Schäden?«

Michael leuchtete mit seiner Taschenlampe aus allen Winkeln auf Chris’ Kopf. »Kein Blut, keine sichtbaren Verletzungen. Wie es aussieht, bist du noch im Besitz desselben Hirns wie zuvor.«

Chris versuchte, über den Scherz seines Freundes zu lächeln, doch beim Verziehen seiner Gesichtsmuskeln brandete nur der Schmerz erneut auf. Und er konnte in Michaels Gesicht den Ausdruck von Sorge erkennen, die auf etwas weitaus Schlimmeres als seinen augenblicklichen misslichen Zustand hindeutete.

»Was ist?«, fragte er und sah von Michael zu Emily. »Was stimmt nicht?«

»Du … du kannst dich nicht erinnern?«, erwiderte Emily. »Die Explosion? Du hast uns gewarnt.«

Chris warf Michael einen verwirrten Blick zu.

»Abgesehen davon, dass Arthur Bell mit dem steinernen Schlüssel abhauen konnte«, antwortete Michael, als er bei seinem Freund die Zeichen für einen Schock erkannte, »hat er auch noch auf dem Weg nach draußen den Eingang zerstört. Irgendeine Art Bombe, wahrscheinlich eine Handgranate. Jetzt sitzen wir hier in der Falle.«

Mit einem Mal änderte sich Emilys Verhalten. Sie beugte sich vor. »Lass dich nicht zu sehr entmutigen, Chris. Noch sind wir nicht am Ende.« Sie legte ihm eine Hand auf den Unterarm und drückte ihn leicht zur Aufmunterung. Dann wandte sie den Blick Michael zu. »In seinem Rucksack ist ein Erste-Hilfe-Set. Säubere seine Wunde, so gut du kannst, danach könnt ihr beide anfangen, nach einem Ausweg zu suchen.«

»Der Lady ist nicht danach, selbst ein bisschen Hilfe anzubieten?«, fragte Chris neckend.

Aber Emily wendete sich bereits von ihm ab und zog sich ans andere Ende der inneren Kammer zurück. »Ich muss etwas anderes tun.«

Chris warf Michael erneut einen verwirrten Blick zu, überrascht über Emilys Drang, sich abzusondern.

Michael wusste nichts von ihren Absichten, doch er spürte, dass sie für ihr Tun einen guten Grund hatte. Er lächelte Chris zu, als er das Erste-Hilfe-Set öffnete, und machte sich daran, die Wunde am Arm zu säubern.

»Sie verhält sich so, wenn sich ihre Gedanken überschlagen. Vielleicht ein wenig abrupt, aber ich würde vorschlagen, du folgst meinen Instinkten und lässt sie in Ruhe.«

Während sie sich unterhielten, wandte Emily sich vollkommen von ihnen ab. Sie war zwar still, aber ihr Herz raste, und ihre Gedanken konzentrierten sich auf ein einziges Ziel. Mach es jetzt, bevor es zu spät ist. Solange es noch frisch ist.

Sie wühlte in ihrem Rucksack herum und holte ein kleines Notizheft und einen Bleistift hervor, der mit einem Gummiband daran befestigt war. Sie schlug die erste leere Seite auf, setzte sich auf den Boden und legte es flach vor sich auf den Sand. Mit der Taschenlampe in der linken Hand, setzte sie mit der rechten die Bleistiftspitze auf das Blatt und begann zu zeichnen.

Vier kreisrunde Linien, die Ringe bilden – wie bei einer Schießscheibe: erst ein Ring, dann drum herum noch einer. Dann ein dritter. Eine Reihe von Linien quer durch, die strahlenförmig verlaufen. Eine Gruppe aus Buchstaben und Ziffern in der Mitte.

Emily öffnete und schloss die Augen in unregelmäßigen Abständen, während ihre Hand arbeitete. Manchmal sah sie auf ihr Werk auf dem Blatt, manchmal schrieb sie etwas nieder, ohne hinschauen zu müssen. Die allmählich entstehende Zeichnung auf dem Blatt ging aus dem lebendigen Bild in ihrem Kopf hervor. Dieses Bild war deutlich, nahezu fotografisch genau. Und in diesem Moment war es vielleicht ihre einzige Möglichkeit, um Fortschritte zu erzielen.

Ein Ring aus koptischen Buchstaben. Dann noch einer 

Im sanften Licht der Taschenlampe nahm die Oberfläche des steinernen Schlüssels langsam Gestalt an.

Der verborgene Schlüssel
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006.html
part0007.html
part0008.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015.html
part0016.html
part0017.html
part0018.html
part0019.html
part0020.html
part0021.html
part0022.html
part0023.html
part0024.html
part0025.html
part0026.html
part0027.html
part0028.html
part0029.html
part0030.html
part0031.html
part0032.html
part0033.html
part0034.html
part0035.html
part0036.html
part0037.html
part0038.html
part0039.html
part0040.html
part0041.html
part0042.html
part0043.html
part0044.html
part0045.html
part0046.html
part0047.html
part0048.html
part0049.html
part0050.html
part0051.html
part0052.html
part0053.html
part0054.html
part0055.html
part0056.html
part0057.html
part0058.html
part0059.html
part0060.html
part0061.html
part0062.html
part0063.html
part0064.html
part0065.html
part0066.html
part0067.html
part0068.html
part0069.html
part0070.html
part0071.html
part0072.html
part0073.html
part0074.html
part0075.html
part0076.html
part0077.html
part0078.html
part0079.html
part0080.html
part0081.html
part0082.html
part0083.html
part0084.html
part0085.html
part0086.html
part0087.html
part0088.html
part0089.html
part0090.html
part0091.html
part0092.html
part0093.html
part0094.html
part0095.html
part0096.html
part0097.html
part0098.html
part0099.html
part0100.html
part0101.html
part0102.html
part0103.html
part0104.html
part0105.html
part0106.html
part0107.html
part0108.html
part0109.html
part0110.html
part0111.html
part0112.html
part0113.html
part0114.html
part0115.html
part0116.html
part0117.html
part0118.html
part0119.html
part0120.html
part0121.html
part0122.html
part0123.html
part0124.html
part0125.html
part0126.html
part0127.html
part0128.html
part0129.html
part0130.html
part0131.html
part0132.html
part0133.html
part0134.html
part0135.html
part0136.html
part0137.html
part0138.html
part0139.html