Kapitel 79

Koptisches Museum, Kairo

Marcianus und seine Gefolgsleute standen vor dem Koptischen Museum im Zentrum von Kairo und warteten ungeduldig darauf, endlich hineinzukommen. Einer der Franzosen kniete vor einem Kontrollkasten zwanzig Meter von der Tür entfernt, die sie ausgewählt hatten, der andere vor einem ähnlichen Kasten an der anderen Seite des Gebäudes. Marcianus stand zusammen mit den übrigen Männern ihrer kleinen Gruppe bei dem ersten und beobachtete die Fortschritte. Trotz der Schwierigkeit, ins Innere zu gelangen, war Schnelligkeit ungeheuer wichtig. Falls sie draußen entdeckt wurden, wie sie bei den Türen herumhingen, wäre ihre Absicht offensichtlich. Die Polizei würde rasch und gewaltsam einschreiten.

Die Alarmanlage des Museums wurde digital von einem redundanten System gesteuert, womit sichergestellt werden sollte, dass die Anlage nicht aufgrund eines Stromausfalls außer Betrieb war, wenn eine Zuleitung der Schaltkreise von außerhalb übernommen oder ausgeschaltet wurde. Das bedeutete, dass zur Abschaltung des Alarms und der Kameras beide Schaltkreise gleichzeitig vom Strom genommen werden mussten. Falls man den einen vor dem anderen unterbrach, würde der verbliebene Schaltkreis sofort den gesamten Komplex abschotten und obendrein ein Funksignal an die Behörden und die Security des Museums senden.

Die beiden französischen Brüder, die ihr Leben beinahe ausschließlich der besonderen Kunst verschrieben hatten, auf der ganzen Welt derartige Systeme zu knacken, hatten sich von dem Aufbau beeindruckt gezeigt. Ein so modernes Equipment in einem Teil der Welt, der nicht gerade für technischen Fortschritt bekannt war, hatten sie nicht erwartet, doch der Oberste Rat für Altertümer in Ägypten wusste eindeutig, was schützenswert war.

Zum Glück musste den zwei Franzosen erst noch ein Sicherheitssystem begegnen, das sie nicht umgehen konnten, und bei ihren Nachforschungen zu den zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen des Koptischen Museums hatten sie eine Schwachstelle zutage gefördert, die genauso bedeutend war wie das System fortgeschritten: Das Museum baute fast ausschließlich auf den Schutz durch das Computersystem. Die Nachtschicht der Museumswächter bestand lediglich aus zwei Männern – weitaus weniger, als in einem Komplex dieser Größe normalerweise erforderlich waren. Wenn sie also einmal das Alarmsystem überwunden hatten, würde das Hineinkommen kein großes Problem mehr sein.

Aber noch mussten sie erst einmal die Technik austricksen, und zwar rasch.

Über die Bluetooth-Headsets, die an Handys angeschlossen waren, stimmten die zwei Brüder ihr Vorgehen präzise aufeinander ab. Die Änderung des Schaltschemas in den beiden Schaltkästen hatte nur eine Auswirkung auf die stromführende Leitung, wenn ein kleiner Chip aus seiner Klemme entfernt und über zwei andere Anschlüsse wieder eingesetzt wurde. Die Franzosen zählten gemeinsam einen Fünf-Sekunden-Countdown herunter und legten dann gleichzeitig die Schaltkreise um.

Stille.

Als sie merkten, dass der Alarm nicht ausgelöst worden war, machten sie sich sofort daran, die Leitungen in den Kontrollkästen neu zu verdrahten. Zwei Drähte setzten die Kameras im Innern außer Gefecht, drei andere kümmerten sich um die Bewegungsmelder. Als Letztes sorgte ein abgeschalteter Schaltkreis dafür, dass die Schwingungssensoren der Ausstellungsvitrinen bei dem, was geschehen würde, nicht anschlugen.

Der Franzose am vorderen Kasten erhob sich und drehte sich zu Marcianus um, während er sein Werkzeug in seiner Tasche verstaute.

»C’est tout.« Er nickte in Richtung Tür.

Nachdem der zweite Franzose wieder zu ihnen gestoßen war, der zuvor noch das Schloss am Eingang zum Museum entfernt, die Angeln geölt und die Tür aufgestemmt hatte, war es Zeit für den Einsatz der Spanier. Marcianus gab das Signal, und sie betraten mit gezogenen Waffen, die mit Schalldämpfern ausgestattet waren, das dunkle Innere.

Nur der leichte Luftzug des Schalldämpfers verriet, dass der drei Meter weiter stationierte Wachmann in das Reich des Geistes gesandt worden war. Die Schritte der Spanier, die tiefer im Inneren verschwanden, zeigten an, dass sie sich auf den Posten des zweiten Nachtwächters zubewegten und diesen genauso rasch aus dem Weg räumen würden.

Marcianus und seine Männer konnten sich danach frei im Gebäude bewegen. Sie mussten lediglich darauf achten, die Taschenlampen so zu halten, dass ihre Anwesenheit nicht von draußen bemerkt wurde.

Bei der Vorbereitung auf ihre Operation im Museum hatte Marcianus nichts dem Zufall überlassen. Seine Leute hatten mithilfe ihrer Gerätschaften in der vorübergehend genutzten Wohnung so viel vom Manuskript entschlüsselt, wie mit dem Ausdruck des Fotos, das er ihnen geschickt hatte, möglich war, und dann die notwendigen Materialien für den Einbruch zusammengestellt. Zum Schluss hatten sie in der Wohnung ein Feuer gelegt und die ganze Ausrüstung, ihre Papiere und Notizen sowie die bei der Vorbereitung benutzten Werkzeuge verbrannt. Selbst das Foto des steinernen Schlüssels war vernichtet worden. Zur Entschlüsselung des verbliebenen Rests würde im Museum das Original zur Hand sein. Die Gruppe ließ alles in Flammen aufgehen, was darauf hinweisen könnte, dass sie sich jemals in der Saleh Omar Street aufgehalten hatte. Die Zeit war knapp, und sie durften nicht riskieren, dass irgendwelche Spuren gefunden und zurückverfolgt wurden.

Ihre neue Umgebung schien wie von einer anderen Welt zu sein: antike Steinsäulen, wiedererschaffene Interieurs koptischer Kirchen und Glasvitrinen mit allem Möglichen, angefangen von Zeremonialmessern bis hin zu mumifizierten menschlichen Überresten. Die Dunkelheit, die nur von den wandernden Lichtstrahlen der Taschenlampen durchbrochen wurde, verstärkt noch diesen Eindruck.

Eine geschnitzte Holztreppe führte sie zur rechten Zeit in den ersten Stock. »Hier ist es«, sagte einer der Brüder und deutete nach rechts, nicht weit vor ihnen. Die Gruppe ging schweigend weiter, und Marcianus betrat als Letzter den Raum.

Und dann hatte er sie mit einem Mal vor sich.

In wunderschönen Glasvitrinen, die in der Mitte des Ausstellungsraums standen, lagen die Nag-Hammadi-Codizes. Fast zweitausend Jahre waren sie in der Wüste verborgen und der Welt nicht bekannt gewesen. Sie waren nur vor dem Vergessen errettet worden, um dann in diesem Gefängnis aus Glas und Informationstafeln eingeschlossen zu sein und geprüft und studiert zu werden von Menschen, die trotz ihres großen Interesses keinen blassen Schimmer hatten, was die Codizes in Wahrheit darstellten oder wofür sie eigentlich gedacht waren.

Heute jedoch befanden sich die Manuskripte in der Gegenwart von Männern, die sie wegen ihres wahren Wertes schätzten.

Der Große Anführer wandte sich an den stämmigen Wissenden aus Italien. »Fang an.« Er zeigte mit einer fließenden Geste seiner Hand auf die Vitrine, die sie brauchten.

Einen Augenblick später hatte der Italiener einen Glasschneider mit Diamantspitze aus seiner Umhängetasche geholt. Damit ließ sich das fünf Zentimeter dicke Sicherheitsglas, aus dem die Vitrine mit den Codizes bestand, unmöglich mit einem glatten Schnitt durchtrennen, doch er hatte mit dem Gerät auch etwas anderes vor. Er packte den Glasschneider mit seinen kräftigen Händen und zog in die Oberseite sowie die Seitenflächen der Vitrine ein Gitter aus tiefen Kratzern, das die Festigkeit des Glases schwächte. Dann steckte er den Glasschneider wieder in seine Tasche und holte einen riesigen Stahlhammer heraus.

Die anderen Männer wichen instinktiv zurück, als der Hammer niederging. Das Geräusch von splitterndem Glas erfüllte den Raum und hallte von den alten Steinmonumenten wider.

Als alle Scherben zu Boden gefallen waren, griff der Italiener in die Vitrine hinein. Mit einer Vorsicht und Andacht, die seiner brutalen Kraft in nichts nachstanden, nahm er den Codex heraus, der auf einem schrägen Podest lag, damit man ihn besser betrachten konnte. Liebevoll überreichte er ihn dem Großen Anführer.

Marcianus ließ seinen Blick auf dem Dokument ruhen und strich mit einem Finger über die unschätzbaren Papyrusseiten. Seine Stimmung stieg. Er konnte die ineinander verwobenen, fast zweitausend Jahre alten Papyrusstreifen an seiner Fingerspitze spüren. Die Striche der mit Tinte aufgetragenen Schrift schienen Konturen zu haben, die man beinahe fühlen konnte. Der Geruch hohen Alters stieg dem Großen Anführer in die Nase.

Er drehte sich zu dem Chemiker um. »Wir sind so weit. Bau deine Sachen auf.« Dann wandte er sich an den Übersetzer und gab ihm das gebundene Buch. »Hier sind die beiden Seiten, die du noch brauchst. Beende die Entschlüsselung und beschaff mir den anderen Codex.«

Der verborgene Schlüssel
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