Kapitel 96

Koptisches Museum, Kairo

Für den Chemiker war es lediglich eine Sache von Minuten, bis er die dritte Lösung mit der letzten Zutat fertig angemischt hatte: zerstoßene Akazienwurzelrinde, zwei Esslöffel. Ein im vierten Jahrhundert weit verbreitetes Kraut, das seine Männer dabeihatten. Dann wurde zur Bindung der Mixtur die Suspension aus gleichen Teilen Wasser und Palmöl hinzugefügt, jedoch in viel kleinerer Menge als bei den Lösungen, mit denen die Karte entschlüsselt worden war. Diesmal brauchte der Chemiker nicht drei Flüssigkeiten, sondern drei zähe Pasten, weshalb er die Suspension kräftig rührte.

Emily, die immer noch an den Stuhl gefesselt war, beobachtete den Vorgang voller Angst, aber auch voller Faszination.

Als der Chemiker die drei Pasten in die gewünschte Konsistenz gebracht hatte, nickte er einem anderen Bruder zu. Der Mann holte den Codex II der Nag-Hammadi-Bibliothek, der die weltweit einzige Abschrift des Thomasevangeliums enthielt. Er schlug die erste Seite des einzigartigen Traktats auf und legte den Band auf den Tisch.

Ohne ausdrücklich dazu aufgefordert worden zu sein, drängten sich alle Brüder dichter zusammen, ihre Augen starr auf das gerichtet, was gleich vor ihnen geschehen würde.

Der Chemiker nahm einen zweieinhalb Zentimeter breiten Borstenpinsel und rührte mit ihm in der ersten Paste. Dann hob er den Pinsel vorsichtig aus der Schale, führte ihn zum Codex, setzte ihn auf das Papyrusblatt und zog ihn in gleichmäßigen Strichen über dessen Oberfläche – erst einmal, dann noch einmal und dann wieder, bis die rostrote Farbe der aufgeschlämmten Pulver den alten Text mit einem durchscheinenden Farbton bedeckte.

»Dreißig Sekunden ab jetzt.« Als die Lösung aufgebracht war, drückte sein Assistent auf eine Stoppuhr. Alle sahen schweigend zu, ihre Blicke waren starr. Selbst Emily blieb stumm; sie war nicht in der Lage zu protestieren. Das wäre auch wenig sinnvoll gewesen, und obwohl das Tun der Männer eine Geschichtsschändung darstellte, vermochte sie die Augen nicht abzuwenden.

»Die Zeit ist um«, verkündete der Assistent.

Der Chemiker nahm eine Plastikflasche mit L-förmigem Hals, die mit destilliertem Wasser gefüllt war, und begoss damit das Blatt. Als die Paste abgespült war, kamen der Papyrus und der Text darauf ohne sichtbare Veränderungen wieder zum Vorschein.

Die zweite dicke Paste wurde genauso wie die erste aufgetragen, das Papyrusblatt nahm nun jedoch einen schmutzig-braunen Farbton an. Der Assistent verkündete eine Wartezeit von fünfundvierzig Sekunden, und wieder verfielen alle in gespanntes Schweigen. Die Paste war zu dunkel und zu dick, um die Seite noch durchscheinen zu lassen, weswegen das Warten umso spannender war.

Endlich wurde das Ende der Wartezeit angesagt, und wieder fing der Chemiker an, das Blatt abzuspülen. Emilys Entsetzen wuchs, als die Lösung von dem Blatt heruntertropfte und die Oberfläche des Papyrus von Neuem sichtbar wurde.

Leer.

Der antike Text, die einzige Abschrift einer der frühesten nicht offiziellen Auslegungen der christlichen Botschaft, war vollkommen gelöscht.

»Scheißkerle«, sagte Emily; ihre Stimme war voller Angst.

Marcianus schaute nicht auf, sondern sprach mit merklicher Verärgerung, während seine Männer mit der Arbeit fortfuhren. »Still, bitte, Dr. Wess. Ich möchte Sie nicht unbedingt zum Schweigen bringen müssen.«

Als die zweite Lösung entfernt war, wurde sofort die dritte – gelbe – Paste aufgetragen.

»Eine Minute und dreißig Sekunden«, lautete diesmal die Zeitangabe, und die Stoppuhr begann zu laufen.

Jede Sekunde schien sich länger zu dehnen als die vorherige. Marcianus stieß seine Brüder beiseite, damit er so dicht wie möglich vor dem Codex stehen konnte. Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Stirn in Falten gelegt. Während dieser langen Augenblicke schien es, als gäbe es nichts auf der Welt außer dem Text vor ihm – und den Worten, die er gleich sehen würde.

»Zeit«, rief der Assistent endlich.

Der Chemiker nahm seine Flasche und begann, sie auszugießen. Die Lösung wurde dünner, bildete Rinnsale auf der Seite und tröpfelte herunter.

In Sekundenschnelle war die Oberfläche abgespült.

Sie war nicht mehr leer.

Emily drückte gegen ihre Fesseln, um genauer hinsehen zu können. Was den antiken Papyrus bedeckte, war nicht mehr der Text des Thomasevangeliums. Es war auch keine Landkarte, wie sie und Michael sie unter ihrem französischen Manuskript in London entdeckt hatten. Es war ein neuer Text, geschrieben in einer eleganten, kühnen Handschrift.

Marcianus blickte voller Verwunderung darauf. Es war jedoch einer seiner Brüder, der die Entdeckung den anderen im Raum verkündete.

»Das Befreiungsgebet.«

Marcianus nickte, ohne den Blick von dem Blatt zu wenden. »Endlich.«

Der verborgene Schlüssel
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