Kapitel 51
Die Felswand, nordwestlich von Nag Hammadi
Der schwarze Fleck, den Michael ausgemacht hatte, lag im tiefsten Einschnitt des Gesteins, etwa fünfundzwanzig Meter oberhalb der Stelle, wo der Wüstensand am felsigen Hang endete. Wegen der Hitze und des steilen Geländes, das mehr schlecht als recht Halt bot, dauerte der Aufstieg länger, als die fünfundzwanzig Meter Höhenunterschied hätten vermuten lassen.
Als Emily, Michael und Chris den neunten Meter hinter sich hatten, veränderte sich der Neigungswinkel des steinigen Untergrunds, der bis hierhin als steil gelten konnte, so stark, dass man nun von einer regelrechten Felswand sprechen musste. Und ihr vorsichtiger Fußmarsch ging in eine gefährliche Klettertour über.
»Ich gehe nicht davon aus, dass du für Derartiges was eingepackt hast?«, fragte Michael seinen alten Freund, während sie die Wand über ihnen betrachteten. Die Felsen ragten hoch auf und versperrten den Blick auf die Sonne.
»Ich hab ein paar Seile dabei«, antwortete Chris. »Aber vor unserem Abflug – bei deinem Verkaufsgespräch für diese Reise – war von der Besteigung einer Steilwand eigentlich nicht die Rede.«
Emily hatte sich bereits ans Klettern gemacht. Da die Luftfeuchtigkeit fast bei null Prozent lag, waren ihre Handflächen trocken, sodass sie den Sandstein gut greifen konnte. Zudem wies die Felswand zahlreiche Vertiefungen auf, die als Haltepunkte für Hände und Füße dienen konnten und den künstlichen Entsprechungen an den Kletterwänden in ihrem Fitnessstudio nicht unähnlich waren.
»Em, sei vorsichtig«, warnte Michael, während er zusah, wie sie bis über seine Augenhöhe hochkletterte. »Hier liegen keine Matten auf dem Boden.«
Sie schaute zu ihm hinunter. »Halt dich selbst an deinen Rat und fang an zu klettern.«
Das Klettern ging freilich nur langsam vonstatten, doch immerhin kam die kleine Gruppe voran. Nachdem sie sich die Zeit genommen hatten, das Gelände genau zu studieren, und zu dem Entschluss gekommen waren, dass die Seile ihnen kaum nützen würden – ohne Karabiner oder Sicherungsgerät konnten sie nichts festzurren –, setzten sie den Aufstieg durch langsames Freeclimbing fort.
Von den dreien war Michael am wenigsten auf das Freiklettern vorbereitet. Er näherte sich zwar gelegentlich der Kletterwand in seinem Fitnessstudio in der Nähe des Britischen Museums, doch das war nicht seine Lieblingsbeschäftigung, und er hatte bei Weitem nicht so viel Erfahrung darin wie seine Frau. Genauso konnte Chris nicht behaupten, große Kenntnisse im Bergsteigen zu besitzen, doch infolge seiner Zeit beim Militär war er für das Terrain vor ihnen gut gerüstet. Sie beschlossen, Michael in die Mitte zu nehmen und dicht hintereinander zu klettern, damit Emily und Chris von oben und unten Michael helfen könnten, falls es notwendig sein würde.
Michael konzentrierte sich auf das Einmaleins des Bergsteigens: immer an drei Punkten mit dem Fels in Kontakt bleiben, die Hände zum Festhalten einsetzen und sich mit den Beinen nach oben schieben. Das Hochdrücken war nicht das Problem – das bestand vielmehr darin, die geeigneten natürlichen Griffe zu finden, die ihm genug Halt gaben, um das Gleichgewicht zu bewahren, wenn er auf der Suche nach einer Stütze für seine Füße mit den Beinen über die Felswand rutschte.
Sie waren über fünfzehn Minuten relativ gut mit dem Klettern vorangekommen, als Michael, der inzwischen an Selbstvertrauen gewonnen hatte, das rechte Bein nach außen schwang und dann den Fuß auf einen kleinen Absatz setzte. Während er sich weiterhin mit den Händen festhielt, löste er den linken Fuß von der Wand, brachte ihn unter seinen Körperschwerpunkt und setzte die Zehenspitzen auf einen kleinen dreieckigen Felsvorsprung. Sobald seine Position stabil war, verlagerte er das Gewicht auf den linken Fuß und schob sich nach oben.
Und genau in diesem Moment ging die Sache schief.
Das Geräusch von brechendem Gestein durchschnitt scharf die Stille. Bevor Michael noch richtig den Ursprung des Knackens zu erkennen vermochte, brach der Fels unter seinem Fuß weg, und sein Körper sackte nach unten.
Eine Sekunde später hing Michael nur noch mit den Händen an der Wand.
»Michael!«, schrie Emily auf, die gut einen Meter über ihm war und von dort nach unten blickte.
Michael war nicht imstande, ihr zu antworten; er klammerte sich an die Felswand, das Gesicht seitlich gegen den Stein gepresst. Seine Hände verloren rasch an Kraft. Er versuchte, sich mit dem Rumpf gegen den Fels zu drücken und der Gleichgewichtsverschiebung entgegenzuwirken, die daher rührte, dass seine Beine über dem Kopf von Chris frei in der Luft baumelten.
Er brauchte all seine Kraft, um sich an der Felswand festzuhalten, und ihm war bewusst, dass er dies nicht mehr lange schaffen würde.
»Halt dich fest!«, rief Chris. »Ich komme sofort.« Er schob sich mit zwei kräftigen Bewegungen seiner Beine nach oben, und eine Sekunde später befand sich sein Gesicht in Höhe von Michaels Knien. Nachdem er einen sicheren Halt für sich selbst gefunden hatte, streckte er eine Hand aus, packte Michaels Beine und schob sie hoch, um ihn zu stützen. Doch aufgrund des Winkels konnte Chris mit seinem Arm nur wenig Kraft aufbringen.
»Ich komm’ runter!«, brüllte Emily. In Taillenhöhe fand sie sichere Haltepunkte für ihre Hände, sodass sie etwa einen Meter nach unten gleiten konnte; dann schob sie sich nach links. Jetzt war ihr Oberkörper gleichauf mit Michaels Gesicht, dessen Rotton immer dunkler wurde, da ihm die Anstrengung, sich festzuhalten, den Atem raubte.
»Nimm seinen Arm!«, rief Chris von unten. »Entlaste ihn von einem Teil seines Gewichts.«
Emily sorgte dafür, dass ihre Füße einen sicheren Halt hatten, und streckte einen Arm nach Michael aus. Sie versuchte, ihn unter der Achselhöhle zu packen und nach oben zu zerren.
Michaels Finger waren taub, und er konnte nicht mehr fühlen, wie fest sein Griff noch war. Er spürte jedoch, wie seine Brust an der Felswand ein kleines Stück nach unten glitt, und erkannte, dass er im Begriff war, seinen Halt an der Felswand zu verlieren.
»Rutsch’ ab!« Das war das Einzige, was er herausbrachte. Nun kamen auch noch Höhenangst und Sauerstoffmangel hinzu, und die Welt begann sich zu drehen.
Emily beugte sich so weit nach links, wie sie konnte. Sie zwängte ihre Hand zwischen Michaels rechten Arm und den Fels, dann packte sie ihn fest an der Schulter.
»Mehr kann ich ihn nicht stützen!«, rief sie Chris zu. Ihre Stimme klang verzweifelt. Michaels Körper war in Bewegung. Wenn er losließ, würde sie sein Gewicht unmöglich mit nur einer Hand halten können.
Chris veränderte die Position seiner Füße und bewegte sich zu einer Stelle direkt unterhalb von Michael. Mit einer Hand umklammerte er einen kleinen Felsvorsprung, um das Gleichgewicht zu halten, mit der anderen packte er Michael an den Hosenbeinen und begann, ihn nach oben zu schieben.
Michael atmete tief aus, als er spürte, dass seine Hände nicht mehr sein ganzes Körpergewicht halten mussten.
Chris stieß ihn weiter nach oben und drückte schließlich Michaels linkes Bein zu einer freistehenden Kante neben dem Knie. Er setzte Michaels Schuh auf das vorspringende Gestein, dann lockerte er seinen Griff. Emily folgte der Bewegung, und als Michaels Füße endlich einen festen Stand hatten, legte sie seine Hand auf einen geeigneten Haltepunkt und ihre eigene darüber.
»Hast du’s?«
Michael nickte. Er zitterte zu stark, um etwas sagen zu können. Das Adrenalin, das durch seine Muskeln strömte, führte zu einem Kribbeln und Zucken seiner Beine.
»Hast du ’nen Halt?«, rief Chris, der vor Anstrengung keuchte, von unten herauf. Er blickte an Michael vorbei zu Emily, die lediglich nickte, und sah noch immer das blanke Entsetzen in ihrem Gesicht.
Dem Tod verdammt nahe, und zwar wir alle, dachte er. Kein gutes Omen.
»Wir sollten wieder runtersteigen«, sagte Emily zwischen heftigen Atemzügen, als sie sich langsam wieder beruhigte. »Ohne eine bessere Ausrüstung ist das zu schwierig.«
»Nein!«, widersprach Michael heftig, der nun wieder Luft bekam. »Den größten Teil der Strecke haben wir doch schon geschafft. Wir sind bald da.« Er schnaufte einige Male tief durch, um wieder ruhig zu werden.
Dann blickte er seiner Frau direkt in die Augen. »Wir machen weiter.«