Kapitel 104

Koptisches Museum, Kairo

Nur fünfundzwanzig Minuten nach Michaels Anruf war die Polizei im Koptischen Museum eingetroffen. Er hatte zum richtigen Zeitpunkt eingegriffen: Die Gruppe war so sehr auf ihre Arbeit konzentriert, dass sie, die ansonsten von einem Zwei-Mann-Team wohl nicht aufzuhalten gewesen wäre, vollkommen auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Sie hatten ihre Waffen nicht griffbereit, und als den ersten beiden auf den Kopf gezielt wurde, gaben alle auf.

»Sie sagten, er hieß Marcianus? Oder hieß er Bell?«, fragte ein Ermittler Emily.

»Beides trifft zu. Sein eigentlicher Name muss Arthur Bell sein, doch in seiner Gruppe nennt er sich Marcianus.«

»Der Name stammt aus dem zweiten Jahrhundert«, fügte Michael hinzu, der neben seiner Frau stand und den linken Arm nun in einer Schlinge trug, die ihm Ärzte vor der Befragung angelegt hatten. »Es ist ein Name, der unter den frühchristlichen Gnostikern recht oft auftauchte. Bell muss ihn als Zeichen der Verbundenheit angenommen haben.«

Der ägyptische Inspektor runzelte die Stirn, wie schon fast durchweg seit dem Beginn der Befragung. Die meisten Angaben, die Emily und Michael machten, waren äußerst merkwürdig – steinerne Schlüssel, codierte Texte, unsichtbare Tinte, Geheimnamen, mysteriöse Gebete.

Für die Polizisten waren Emily und Michael anfangs genauso Verdächtige gewesen wie allen anderen in dem sicherheitsgefährdeten Museum, vor allem, als sie die groben Seilfesseln gesehen hatten, mit denen die Ausländer im Manuskriptsaal festgehalten worden waren. Eine Überprüfung ihres Hintergrunds bestätigte jedoch, dass sie beide angesehene Akademiker ohne Vorstrafen waren; und allein schon das Ausmaß an körperlicher Folter, die Michael hatte ertragen müssen, reichte aus, um die Beamten davon zu überzeugen, dass er kein Gesetzesbrecher, sondern ein Opfer war.

Nach zwanzigminütiger Befragung wurden Emily und Michael entlassen, und die Aufmerksamkeit der Polizeibeamten wandte sich den festgenommenen Männern zu.

»Du musst Chris anrufen«, sagte Emily, sobald sie sich von den anderen entfernt hatten. »Jetzt gleich.«

»Er hat schon probiert, zu mir durchzukommen«, antwortete Michael. »Er hat ein halbes Dutzend Nachrichten hinterlassen, und doppelt so viele Anrufe in Abwesenheit habe ich mit seiner Nummer.« Er hatte bislang keine Möglichkeit gehabt, sich die Nachrichten anzuhören, deshalb hielt er es nun für das Beste, Chris einfach direkt anzurufen.

Emily griff nach ihrem eigenen Handy und sah aufs Display. »Bei mir auch.«

Michael wählte bereits.

Rund neuntausendneunhundert Kilometer Luftlinie entfernt klappte Chris erleichtert sein Telefon auf. »Mike! Gott sei Dank! Geht’s dir gut?«

»Uns geht’s gut, Chris«, antwortete Michael. »Aber es war doch ein bisschen wie ein Abenteuer hier.«

»Da seid ihr nicht die Einzigen.«

Michael machte es dringend. »Hör zu, Chris! Wir fanden Arthur Bell und seine Männer im Koptischen Museum, genau wie wir vermutet hatten. Sie zwangen Emily zur Zusammenarbeit, aber …«

»Zwangen?«, unterbrach Chris ihn besorgt.

»Es geht ihr gut. Sie zwangen sie dazu, die Entschlüsselung zu vollenden. Ihr Ziel war einer der Nag-Hammadi-Codices, genau wie wir angenommen hatten, und unter ihm kam noch ein weiterer Text zum Vorschein. Dieses Mal haben sie ein Gebet freigelegt.« Michael holte tief Luft. »Du hattest recht mit deinem Verdacht, Chris. Ich kann dir nicht genau sagen, was das Gebet bedeutet, aber allem Anschein nach handelt es sich um ein Sterberitual. Bell plant eindeutig einen Anschlag. Er erwähnte sogar ausdrücklich eine Bombe …«

»Mike, beruhige dich«, unterbrach Chris ihn schließlich. Michael sprach rasend schnell.

»Die Drohung ist echt, Chris«, beharrte er. »Ihr müsst etwas unternehmen.«

»Das versuche ich dir doch gerade zu sagen. Wir haben bereits etwas unternommen.«

Die Bemerkung drang endlich zu Michael durch, und er hörte anschließend aufmerksam Chris zu, der ihn über die Vorgänge der letzten Stunden informierte – das Filmmaterial, die Stürmung des Lagerraums, die Entdeckung und Entschärfung der Bombe.

»Unsere Sprengstoffexperten sagen, es war eine recht einfache Apparatur, aber dennoch wäre sie todbringend gewesen. Ein Sprengsatz in einem Drahtnetz voller Nägel, Metallsplitter, Schrauben und Bolzen. Es wäre ein Gemetzel geworden.«

»Großer Gott.«

»Diese Splitterbomben haben die Selbstmordattentäter am liebsten.« Chris seufzte tief. »Unsere Erkenntnisse waren vielleicht bruchstückhaft, aber die einzelnen Teile fügten sich perfekt zusammen.«

Michael spürte förmlich körperlich die Erleichterung, wie Emily sehen konnte, während sie dem Gespräch der beiden zuhörte.

»Das FBI möchte euch beide sofort hier drüben sehen«, fuhr Chris fort. »Nun, da die Bedrohung ausgeschaltet ist, ruht das Hauptaugenmerk darauf, die Verschwörer auseinanderzusortieren, die sie schufen. Eine Agentin hier, Laura Marsh, und ich hegen ein paar Vermutungen. Aber wir möchten von euch alles hören, was in Ägypten und Großbritannien passiert ist. Könnt ihr heute Abend rüberfliegen? Das FBI zahlt.«

»Klar doch, Chris. Natürlich«, antwortete Michael, ohne zu zögern.

Chris nannte ihm einen passenden Flug, und einige Minuten später hatten sie sich Lebewohl gesagt.

Michael drehte sich zu Emily um. »Sie wollen uns so schnell wie möglich in Chicago haben.«

»Es hat eh keinen Zweck, hier weiter herumzuhängen«, antwortete sie. Ihre Miene verriet ihren Wunsch, an der Sache dranzubleiben. Sie wollte nach wie vor an den Mann herankommen, der für Andrews Tod verantwortlich war.

Michael legte ihre Hand unter seinen unverletzten Arm, und ihre Blicke überflogen die Szene vor ihnen ein letztes Mal. Marcianus’ Männer waren nach wie vor gefesselt und wurden nacheinander von der örtlichen Polizei verhört.

Als sie sich zum Gehen wandten, fing Michael den Blick eines der Festgenommenen auf. Etwas an dessen Gesichtsausdruck ließ Michael bis ins Innerste frösteln. Der Mann saß gefesselt da, seine Inhaftierung stand fest, und das Komplott, an dem er beteiligt gewesen war, hatte man zunichtegemacht. Doch sein Gesicht sah … zufrieden aus. Er hatte ein seltsames Grinsen aufgesetzt.

Als sie sich entfernten, wurde daraus ein sehr breites, zufriedenes Lächeln.

Der verborgene Schlüssel
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