Kapitel 40
Auf dem Flug von London nach Kairo
»So«, sagte Chris und drehte sich Michael zu, nachdem das Essen serviert, verzehrt und das Geschirr wieder abgeräumt worden war. »Es ist an der Zeit, dass Harvard der Navy hinsichtlich einiger eher esoterischer Details Erleuchtung zuteilwerden lässt.«
Michael hatte sanft und beschützend einen Arm um Emilys Schulter gelegt, während er mit den Fingern der anderen Hand auf der Armlehne seines Sitzes hin und her fuhr. Nachdem sie nun endlich etwas im Magen hatten, spürte er seine Erschöpfung. Er wollte unbedingt auch in den leichten Schlaf sinken, in den Emily neben ihm schließlich gefallen war. Aber seine Gedanken kreisten immer noch viel zu sehr um die Ereignisse des Tages und die Unwägbarkeiten, die vor ihnen lagen. Ihr aufgewühlter seelischer Zustand hatte Emily letztlich schläfrig gemacht; vielleicht würde Chris’ Interesse ja Michael zumindest etwas geben, mit dem er sich geistig beschäftigen konnte.
»Dir ist schon klar, dass ich nicht in Harvard war?«, erwiderte er mindestens zum dreißigsten Mal, seit sie sich miteinander befreundet hatten.
»Ich werde es nicht gegen dich verwenden«, antwortete Chris lächelnd. »Der Punkt ist: Du musst mich ein bisschen genauer über den Hintergrund dieser kleinen Reise informieren. Erzähl mir alle Fakten, so gelehrt wie du möchtest.«
»Wo soll ich deiner Meinung nach anfangen?«
»Am Anfa…« Chris brach ab. »Nein, bei genauerem Überlegen: Du bist Wissenschaftler, und der Flug dauert nur fünfeinhalb Stunden. Sag mir bloß das Wichtigste. Ich weiß überhaupt nichts über den Gnostizismus.« Er hob die Mundwinkel und streckte die Arme mit den Handflächen nach oben in die Luft. »Betrachte mich als leere Leinwand. Mal mir ein klares Bild.«
Michael setzte sich in dem schmalen Sitz zurecht und zog vorsichtig seinen Arm von Emilys Schulter.
»Wir sprechen hier von einer Bewegung, die Jahrhunderte überspannte, mehrere Kontinente umfasste und Dutzende von philosophischen und religiösen Paradigmen und Kulturen in sich vereinte. Zur Vorbereitung müssen wir zu den antiken griechischen Philosophen zurückgehen, zu Platon und Aristote…«
Chris unterbrach unvermittelt seine Ausführungen mit der offenen Handfläche, die er wie ein Schupo in die Luft hob, der in der Rushhour den Verkehr stoppte.
»Du hattest dreißig Sekunden, und schon komme ich nicht mehr mit bei dem, was du sagst.«
»Chris, das ist keine einfache Sache. Geschichte ist vielschichtig.«
»Stell dir mal einen Moment lang vor, du müsstest das Ganze in einem einzigen Satz erklären.« Chris war daran gewohnt, Informationen stichpunktartig geliefert zu bekommen. Was sich nicht in einen Satz packen ließ, war normalerweise überhaupt nicht formulierbar. »Dampf die Sache auf ihren wahren Kern ein. Von was reden wir da eigentlich?«
Michael zögerte. Er hatte seit jeher reduktionistische Vereinfachungen gehasst, doch ihm war auch klar, dass Chris nicht der Typ war, der sich für einen wissenschaftlichen Vortrag erwärmen konnte.
»Das ultimative Ziel des Gnostizismus«, sagte er schließlich, »war die Befreiung der Seele von der Materie beziehungsweise vom Stofflichen.« Er öffnete den Mund, holte Luft, als wollte er fortfahren, bezwang sich aber, bevor noch ein weiteres Wort über seine Lippen kam. Mit überraschter Miene machte er eine unerwartete Geste zu Chris. Das war’s. Da hast du ihn. Deinen einen Satz.
»Die Befreiung vom Stofflichen?«
»Die Gruppen, die wir Gnostiker nennen, waren recht unterschiedlich und eklektizistisch, wollten aber bis zu einem gewissen Grad alle das Gleiche: das wahre Wissen oder auch die wahre Erkenntnis, eben gnosis, über das Universum. Sie glaubten, dieses Wissen würde es ihnen erlauben, sich bewusst zu werden, dass die materielle Welt ein Trugbild darstellt und nur der Geist echt ist. Es war ein Wissen, das nach ihrer Überzeugung letztlich zur Befreiung vom Stofflichen und zum Eintritt in das reine Reich des Geistes führen würde.«
Was er da beschrieb, kam Chris bekannt vor. »Du hast soeben etwas dargelegt, an das die halbe Bevölkerung von Kalifornien glaubt – und all die New-Age-Anhänger, die mir je begegnet sind.«
»Richtig«, antwortete Michael, der den Scherz verstand, aber zu sehr auf das Thema fokussiert war, um darüber zu lachen. »Diese Philosophie hat die New-Age-Spiritualität in den vergangenen Jahrzehnten stark beeinflusst. Sie ist, in der Antike und auch in der modernen Zeit, so populär gewesen wegen der Überzeugung, dass das wahre Leben jenseits des Stofflichen es einem erlaubt, auf die Welt recht frei und locker zuzugehen. Wenn all dieses materielle Zeug nur eine Hülle, ein Käfig, ein Gefängnis ist, dann spiegelt sich diese Einstellung im Verhalten der Welt gegenüber wider. Die materielle Welt zählt nicht. Sie ist eine minderwertige Existenzform, die man ausmustern kann.«
Die Augen wurden ihm schwer, während er sprach, die Hektik des Tages begann ihn einzuholen.
»Hört sich gar nicht so schlecht an«, erwiderte Chris. »In der physischen Welt gibt es massenhaft Dinge, die einem nicht gefallen, oder?« Er behielt seinen leichten Tonfall bei, aber Michael spürte, dass seine Frage ernst gemeint war. »Krankheit, Leid, Tod. Warum nicht auf all das von oben herabschauen?«
»Der Gnostizismus wurde von den frühen Christen, aber auch vom Römischen Reich, genau deswegen abgelehnt«, antwortete Michael. »Was du sagst, klingt durchaus logisch, ja sogar vernünftig. Aber dahinter steht ein Verständnis von der Welt, das die Christen nicht akzeptieren konnten. Sie lehrten, dass die Welt gebrochen sei, aber geheilt und erlöst werden könne. Doch die Gnostiker verkündeten, dass sie bis in ihren Kern verrottet sei und man ihr entrinnen müsse. Zwischen Befreiung von der Sünde und Befreiung vom Stofflichen besteht ein großer Unterschied.«
Chris schob seinen großen Körper tiefer in den Sitz und versuchte vergeblich, seine Rückenlehne ein paar Millimeter weiter nach hinten zu drücken. Michaels Sätze hingen in der Luft.
»Und das ist also das Ziel der Gruppe, hinter der wir her sind?«, fragte Chris schließlich. »Diese ›Befreiung vom Stofflichen‹?«
»Sie bemühen sich allem Anschein nach um eine Verbindung zum Gnostizismus«, antwortete Michael. »Aber wie die genau aussieht, wissen wir nicht.« Er gähnte. Das war ein gutes Zeichen: Vielleicht gelang es ihm doch noch, vor der Landung ein paar Stunden zu schlafen.
»Das weißt du nicht?«, hakte Chris nach.
»Noch nicht. Ich vermute – ich hoffe halt –, dass dieser ›verborgene Schlüssel‹, was immer das auch sein mag, eine Erklärung liefern kann.«
Nun waren es die Finger von Chris, die auf die Plastikarmlehne zwischen ihnen trommelten.
»Wie auch immer die Verbindung aussehen mag – das kann nicht gut sein.«
Michael war plötzlich wieder hellwach. »Warum sagst du das?«
»Weil das, was du ›Befreiung vom Stofflichen‹ nennst, für mich schrecklich stark nach Tod klingt.« Er beugte sich zu Michael hinüber. Da Emily schlief und er sie mit seinen Worten nicht aufwecken wollte, fuhr er mit gesenkter Stimme fort: »Und sie haben bereits deinen Verwandten ›befreit‹, nicht wahr? Wenn ihr Ziel in der Befreiung von noch mehr Menschen besteht, dann kann das … das …«
Als er abbrach, vervollständigte Michael den Gedanken. »Dann kann das nicht gut sein.«