Kapitel 116
Magnificent Mile, Chicago
Cerinthus wanderte durch die wogende Menschenmenge mit leichten Schritten, als würde er kaum die Erde berühren. Die Massen von Menschen in der von Vorfreude geschwängerten Atmosphäre vor dem Beginn der Parade bildete eine himmlische Kulisse. Er spürte, wie seine Sinne schärfer wurden: Ihm fielen die Kälte der Morgenluft auf, das helle Licht des Himmels, die lebhaft schimmernden Fassaden der Gebäude. Einen Moment lang kehrte er in Gedanken zu seiner ruinierten Jugend mit all den Erniedrigungen, der Einsamkeit und den Sorgen zurück. Dann war er davon erlöst, wiederhergestellt und kurz davor, in die heilige Zukunft zu greifen.
Er ging weiter auf den ausgewählten Ort zu. Als er leichtfüßig vorwärtseilte, rieb er sich mit den Händen über sein Hemd, das locker über der darunter verborgenen Weste lag. Seine Finger tanzten über die Zukunft.
Am Sammelplatz der Parade in der Lower Michigan Avenue blickte Reverend J. Barry Packard prüfend in die Gesichter der religiösen Würdenträger. Die vordersten Reihen der Parade waren bereits über die Startmarkierung marschiert und auf dem Weg die jubelnde Magnificent Mile hinunter: Ein Löschzug der Feuerwehr trug die symbolische Eröffnungsfahne, und ihm folgte eine Marschkapelle von der East Chicago Central High School.
Die Einheitsprozession würde sich in der Mitte der Parade befinden und deren Herzstück bilden. Die Symbolik war beabsichtigt: die Glaubensrichtungen des ganzen Landes vereint im Herzen einer Demonstration von Patriotismus. Gouverneur Aaron Wilsons Mitarbeiter hatten jeden Aspekt des Spektakels durchdacht und dafür gesorgt, dass es alle Erwartungen übertreffen würde, die irgendjemand an eine symbolträchtige religiöse Versammlung auch nur haben könnte. Dies würde eine der größten Demonstrationen religiöser Einheit im heutigen Amerika und in der Welt sein.
Packard war von den anderen religiösen Führern umgeben. Viele der Gesichter kannte er: Da war sein Rabbi-Freund Veniamin. Ein paar Meter weiter stand der pompös gekleidete römisch-katholische Kardinal von Washington, D.C., der über seine Anwesenheit nicht allzu glücklich zu sein schien. Der sieht das wahrscheinlich als eine PR-Verpflichtung, überlegte Packard. Aber wenigstens ist er erschienen. Nur das allein zählt.
Er fragte sich, wie viele der versammelten Oberhäupter, insgesamt fast fünfundsiebzig Männer und Frauen, wussten, weswegen sie wirklich hier waren. Nur einige wenige, so wie er, gehörten insgeheim zu den Erwählten der Bruderschaft. Der Rest hatte nicht den Hauch einer Ahnung, dass ihre Prozession absolut nichts mit der Zurschaustellung religiöser Einheit zu tun hatte, aber alles mit der Zerstörung des sinnentleerten Mythos weltlichen Glaubens. Dass sie nur Darsteller für den letzten Akt der weltweiten unwissenden spirituellen Verblendung waren.
Bei den meisten können wir froh sein, dass wir sie loswerden.
Packard fummelte an der kleinen Tasche herum, die er an der Seite trug. Seine Robe lag gefaltet darin, sein Cingulum wartete darauf, um diese geschlungen zu werden.
Endlich signalisierte an der Spitze der Gruppe ein Trupp Sicherheitsbeamter in schwarzen Anzügen die Ankunft des Gouverneurs: des Mannes, der das ganze Ereignis organisiert hatte. Und ebendieser Mann hatte der Nation verkauft, sie bräuchte eine Demonstration religiöser Toleranz, an der er selbst nicht das leiseste Interesse hatte.
»Willkommen, meine Damen und Herren«, sagte er schreiend, um von der Versammlung gehört zu werden. »Ich freue mich sehr, dass Sie gekommen sind. Was wir heute machen, wird die ganze Welt sehen.« Er schenkte den vielen religiösen Führern ein wunderschönes Lächeln, und diese lächelten zurück.
Dann trat Gouverneur Wilson zur Seite, nahm seinen Platz für den Start ihres Marsches ein, strich seinen Anzug glatt und stellte sich hoch aufgerichtet hin. Reverend J. Barry Packard bemerkte sein stolzes Gebaren. Er bemerkte auch den Beutel, den die Assistentin des Gouverneurs neben ihm trug. Eine Tasche, die genau wie die von Packard aussah.