Kapitel 21

FBI-Außenstelle, Chicago

»Was haben wir in Erfahrung gebracht?«, fragte die Stellvertretende Direktorin Angela Dawson und eröffnete damit die Sitzung. Die Special Task Force war erneut im Lagezentrum des Gebäudes der FBI Chicago Division versammelt. In den zweieinhalb Stunden, die seit dem Treffen der höheren Gruppenleiter vergangen waren, hatten ihre Teams ohne Pause daran gearbeitet, die Kirche der Wahrheit in der Befreiung genau unter die Lupe zu nehmen.

Ted Gallows antwortete als Erster. Er hatte wie immer seinen Stuhl nach hinten gekippt, sodass dessen Vorderbeine in der Luft waren.

»Trotz der Verbindung, über Pike, zu der Videoausstrahlung von irgendwo im Nahen Osten deutet alles, was wir zu dieser Kirche gefunden haben, darauf hin, dass es sich um eine religiöse Gruppe mit wenig Einfluss handelt. Unsere Hintergrundrecherchen bestätigen die ersten Berichte von heute Morgen. Die Gruppe ist bislang nicht durch Terrorakte oder sonstige Gewalttätigkeiten aufgefallen. Nicht mal ein aggressiver Protest oder Drohbrief in ihrer ganzen Geschichte.« Er kratzte sich am Kinn, das mit Stoppeln bedeckt war, die er absichtlich stehen ließ. Der Bartschatten war für Gallows genauso ein Bestandteil seiner Uniform wie der Blazer.

»Der einzige Fleck auf einer sonst makellosen weißen Weste«, fuhr er fort, »ist die Nachricht, die vor Monaten auf dem AB hinterlassen wurde; und da wir sie nicht zurückverfolgen können, haben wir keine Ahnung, ob sie überhaupt glaubwürdig ist.«

»Das heißt noch nicht, dass sie sauber sind.«

»’türlich nicht. Die alte Redensart stimmt: Dass Beweise fehlen, ist kein Beweis dafür, dass es keinen gibt. Oder zumindest noch keinen handfesten.« Gallows bemühte sich um einen zuvorkommenden Ton, was ihm jedoch nur unter Schwierigkeiten gelang. »Möglicherweise ist es ihnen einfach nur gelungen, nicht auf unserem Radarschirm zu erscheinen.«

»Seit wann?«

»Die Gruppe wurde 1961 gegründet.« Special Agent Laura Marsh beugte sich vor, als sie sprach. In der Gegenwart von Gallows empfand sie einen sonderbaren Konkurrenzdruck, den sie ansonsten im Umgang mit anderen Menschen nie verspürte. Dieses Gefühl war fast mit Sicherheit darauf zurückzuführen, dass Gallows nie Anzeichen zeigte, auch nur ein bisschen von irgendetwas, das sie tat – sei es nun positiv oder negativ –, beeindruckt zu sein.

»Ihr Gründer war ein Mann namens M. Laurence Mahler III.«, fuhr sie fort. »Er war nach allem, was man hört, so etwas wie ein freischaffender Archäologe, der das Geld seiner Familie dafür ausgab, zu Ausgrabungsstätten auf der ganzen Welt zu fahren. Es war ziemlich schwierig, die Geschichte der Gruppe zurückzuverfolgen: Sie haben anscheinend keinen öffentlichen Arm. Keine Website, keine Publikationen, keine auf sie eingetragenen Gebäude.«

»Also haben Sie sich mit den Computern befasst?«

»Das war der logische nächste Schritt. Auf der Basis der wenigen Namen und Schlüsselbegriffe, die wir von dem Video und den Berichten zu Pikes Verhaftung in New York hatten, waren wir in der Lage, eine E-Mail-Durchsuchung zu entwerfen. Jedes Mal wenn eine Nachricht mit einem übereinstimmenden Ausdruck auftaucht, nimmt die Datenbank deren Sprache und Schlüsselwörter auf, und so wird das Netz weiter.«

Das Verfahren war eine Standardprozedur, die nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 viel einfacher geworden war – aufgrund der gelockerten Einschränkungen zur Überwachung der eigenen Bürger durch die Regierung. Folglich würde Lauras Tüchtigkeit bei der elektronischen Durchleuchtung ihre Kollegen kaum beeindrucken. Dennoch war sie stolz auf ihre Arbeit, und ihre offenkundige Selbstsicherheit entstand durch das Wissen, dass sie gute Arbeit leistete. Sie hatte ihren Masterabschluss in Politikwissenschaft und Soziologie gemacht, bevor sie sich beim FBI für die Ausbildung zum Special Agent einschrieb, und obwohl sie nie einen Abschluss oder auch nur einen Kurs in EDV absolviert hatte, war sie doch mit Technik aufgewachsen und hatte sich stets dafür begeistert.

»Hatten Sie damit Erfolg?«, fragte die Stellvertretende Direktorin.

»Genug, dass wir ein bisschen mehr haben, auf dem wir rumkauen können. Anscheinend bevorzugen die Mitglieder zumeist die direkte Korrespondenz, um Neulinge über ihre Geschichte zu informieren. Als wir ihre Nachrichten miteinander verknüpften, konnten wir daher die rudimentären Fakten erfahren.« Sie blickte in ihre Notizen. »Mahler rief die Gruppe als religiöse Bruderschaft ins Leben. Er war überzeugt, er vermittle einen neuen Zugang zu einer antiken gnostischen, mystischen Tradition.«

»›Gnostisch‹«, warf Ted Gallows ein, »war auch das Wort, mit dem der Pike-Junge in New York sich beschrieb.«

»Also steht der Mann, den die Presse ›der gnostische Terrorist‹ nannte, definitiv mit dieser Gruppe in Verbindung?«

»Absolut.«

»Diese Betonung des Gnostizismus«, fuhr Agent Marsh fort, die wieder auf die Geschichte der Gruppe zu sprechen kommen wollte, »ist der entscheidende Glaubenssatz der Kirche der Wahrheit in der Befreiung. Mahler behauptete, er habe ein altes Dokument gefunden: ein Buch, das ihm Zugang zu einer viel älteren Tradition gewährt habe. Danach warf er das bekannte New-Age-Zeug der 1960er-Jahre über Bord, um sich in seine neue – oder wie er sagte, alte – Alternative zu vertiefen.«

»Ist dieser Mahler immer noch am Ruder?«

»Er starb 1979. Ein Mann namens Arthur Bell wurde sein Nachfolger. Er ist sogar noch geheimnistuerischer und offenbar immer noch ihr Anführer.«

Angela Dawsons Interesse wuchs. »Folglich haben wir hinter der Drohung eine konkrete Person?«

»Nur einen Namen hinter der Gruppe und noch keine Infos über ihn«, antwortete Gallows. »Und vergessen Sie nicht, dass die Kirche der Wahrheit in der Befreiung sich zu dem Video nicht bekannt hat.«

»Na gut … Mist«, erwiderte die Stellvertretende Direktorin kurzangebunden. Sie trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, bevor sie entschied, eine andere Schiene auszuprobieren. »Unsere Hintergrundinformationen sind also spärlich. Was wissen wir über ihre Glaubensvorstellungen?«

»Noch weniger als über ihre Geschichte«, antwortete Special Agent Marsh. »Sie hüten sich anscheinend mit Absicht davor, sich außerhalb von persönlichen Gesprächen über ihre Glaubensvorstellungen auszulassen. Die einzigen Hinweise, die wir bekommen, sind kurze Erwähnungen, in denen sie ihre Glaubensvorstellungen als disciplina arcani bezeichnen, was offenbar ›verborgene Lehren‹ bedeutet – Gedanken, die nie schriftlich niedergelegt, sondern nur mündlich weitergegeben werden dürfen. Und nach ihren E-Mails zu schließen, nehmen sie das ernst.«

»Also wissen wir nichts darüber, an was diese Leute glauben?«

»In diesem Stadium der Ermittlung nur, dass sie zumindest grundlegende gnostische Lehren unterstützen.«

»Die da sind?« Dawson zuckte mit den Schultern, was darauf hindeutete, dass sie bislang nur den Begriff »Gnostizismus« gehört hatte, und das auch bloß im Vorbeigehen.

»Tja, da musste ich auch nachfragen.« Gallows schwenkte seinen Stuhl zu der vierten Person im Raum herum, die bis jetzt geschwiegen hatte. Es handelte sich um einen sehr gepflegten Mann in Hosen mit scharfen Bügelfalten und einem grünen Pullover – ein altmodisches Outfit, das in starkem Kontrast zu der sehr modernen Einrichtung des Besprechungsraums stand. »Sie erinnern sich noch an Bruce Atherton vom Fachbereich Anthropologie der University of Chicago? Er hat uns schon bei der Sektenidentifizierung unterstützt.«

Marsh und Dawson nickten. Die Direktorin gab ihm mit einem Wink zu verstehen, dass er sprechen sollte.

»Das Grundprinzip des Gnostizismus«, begann Atherton, der darin erprobt war, direkt zur Sache zu kommen, »ist der radikale Dualismus von Körper und Geist: der Glaube, dass die spirituelle Welt und die physische Welt streng voneinander geschieden sind und sich diametral gegenüberstehen. Die materielle Welt ist unrein und böse, die geistige ist heilig und gut.«

»Predigen das nicht die meisten Religionen?«, fragte Marsh. »Lehrt nicht das Christentum, dass der Geist etwas anderes ist als der Körper?«

»Es ist ein Unterschied, ob man Körper und Geist als verschieden oder als sich fundamental widersprechend ansieht. Das Christentum lehrt, dass die stoffliche Welt sündig ist, aber erlöst werden kann. Der echte Dualismus von der Art, wie wir ihn historisch von den gnostischen Gruppen her kennen, beharrt hingegen darauf, dass die beiden Seinsbereiche in einem naturgegebenen, ewigen Konflikt miteinander stehen. Das Stoffliche ist nicht dazu bestimmt, erlöst zu werden: Es ist dazu bestimmt, ausgelöscht, abgeschüttelt zu werden, damit nur das Geistige übrig bleibt.«

Angela Dawson verstärkte den Griff um ihren Stift. »Das Stoffliche zerstören? Was Sie da sagen, stimmt mit der Mentalität einer Gruppe überein, die drohen könnte, über eine Großstadt Verheerung und Zerstörung zu bringen.«

»Vielleicht«, antwortete Atherton. »Aber Gewalttätigkeit ist nicht charakteristisch für die Gnostiker, und das gilt für den größten Teil ihrer Geschichte. Der Begriff ›Gnostiker‹ selbst bedeutet ›Wissender‹, und ›Gnostizismus‹ ist geradezu eine allgemeine Bezeichnung für spirituelles Wissen.«

»In welcher Beziehung steht dieses Wissen zu dem Dualismus, den Sie gerade beschrieben haben?«

»Das Wissen, von dem die antiken Gnostiker sprachen, war eine geheime, erlösende Bewusstheit. Verschiedene Gruppen beschrieben es auf ihre jeweils eigene Weise, aber im Allgemeinen hatte es etwas mit einer mystischen Bewusstheit für das wahre Wesen des Universums zu tun, das die gnostischen Eingeweihten in die Lage versetzte, sich von der materiellen Welt abzukehren und sich auf die spirituelle hinzubewegen – von der sündigen Existenz befreit zu sein und im Geist frei zu werden.« Er hielt einen Augenblick inne und fügte dann hinzu: »Der Gnostizismus war keine gewalttätige Bewegung. Er wurde in Wirklichkeit vom Römischen Reich, das weitaus gewaltbereiter war und ihn mit Misstrauen betrachtete, schwer verfolgt. Die meisten Gnostiker waren friedlich und führten ein Leben, das der Kontemplation gewidmet war.«

Dawson beugte sich über den Tisch. »Das mag für Ihre Gnostiker in der Vergangenheit zugetroffen haben, Dr. Astherton. Aber diese Gnostiker von heute drohen damit, unsere Stadt hier zu zerstören; einer von ihnen wurde gerade in New York mit einem Scharfschützengewehr verhaftet. Und anscheinend stehen sie in Verbindung mit Typen aus einem Terror-Camp im Nahen Osten, die sich auf dem Weg hierher befinden – Männer, die in der Vergangenheit todsicher Gewalttaten begangen haben.«

Sie wandte sich an Special Agent Marsh. »Wir müssen mehr über ihre Pläne herausfinden. Wenn sie darüber nichts schreiben, dann gibt es nur eine Möglichkeit, wie wir an die notwendigen Informationen herankommen. Sie müssen mir ein Mitglied der Kirche der Wahrheit in der Befreiung beschaffen.«

Der verborgene Schlüssel
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006.html
part0007.html
part0008.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015.html
part0016.html
part0017.html
part0018.html
part0019.html
part0020.html
part0021.html
part0022.html
part0023.html
part0024.html
part0025.html
part0026.html
part0027.html
part0028.html
part0029.html
part0030.html
part0031.html
part0032.html
part0033.html
part0034.html
part0035.html
part0036.html
part0037.html
part0038.html
part0039.html
part0040.html
part0041.html
part0042.html
part0043.html
part0044.html
part0045.html
part0046.html
part0047.html
part0048.html
part0049.html
part0050.html
part0051.html
part0052.html
part0053.html
part0054.html
part0055.html
part0056.html
part0057.html
part0058.html
part0059.html
part0060.html
part0061.html
part0062.html
part0063.html
part0064.html
part0065.html
part0066.html
part0067.html
part0068.html
part0069.html
part0070.html
part0071.html
part0072.html
part0073.html
part0074.html
part0075.html
part0076.html
part0077.html
part0078.html
part0079.html
part0080.html
part0081.html
part0082.html
part0083.html
part0084.html
part0085.html
part0086.html
part0087.html
part0088.html
part0089.html
part0090.html
part0091.html
part0092.html
part0093.html
part0094.html
part0095.html
part0096.html
part0097.html
part0098.html
part0099.html
part0100.html
part0101.html
part0102.html
part0103.html
part0104.html
part0105.html
part0106.html
part0107.html
part0108.html
part0109.html
part0110.html
part0111.html
part0112.html
part0113.html
part0114.html
part0115.html
part0116.html
part0117.html
part0118.html
part0119.html
part0120.html
part0121.html
part0122.html
part0123.html
part0124.html
part0125.html
part0126.html
part0127.html
part0128.html
part0129.html
part0130.html
part0131.html
part0132.html
part0133.html
part0134.html
part0135.html
part0136.html
part0137.html
part0138.html
part0139.html