Kapitel 23

Britisches Museum, London

Einen Moment später standen Emily und Michael vor der in Eigenregie gebauten Multispektralkamera des Museums. Ein schwarzes Unterlegbrett hielt das Manuskript unter einem Gerüst, das an eine Guillotine erinnerte und auf dem eine digitale Videokamera in genau der richtigen Höhe positioniert werden konnte. An den Seiten ragten wie große Arme zwei Platten mit Reihen von Speziallampen hervor, die Michael dreiundzwanzig Zentimeter über dem Dokument so in Position brachte, dass ihr Licht schräg von jeder Seite auf die Blattoberfläche fiel. Emily dimmte die Deckenbeleuchtung des Raums, während Michael das System hochfuhr und mit einem Finger auf den ersten einer Reihe von Knöpfen drückte.

»Das erste Band ist Ultraviolettlicht«, sagte er, »maskiert in Standard-Schwarzlicht.« Als er sprach, begann ein bläuliches Licht aus den Platten zu scheinen und tauchte das Manuskript in eine überirdische Blässe. Unter der seltsamen Farbgebung schienen die Ränder der alten Schrift zu tanzen, und das Licht erzeugte eine Illusion von Tiefe, bei der es schwerfiel, das Augenmerk auf den Text zu richten. Aber es blieb, trotz der anderen Farbstimmung, dieselbe Schrift wie zuvor.

»Siehst du irgendwas?«, fragte Emily.

Michael schüttelte den Kopf. Er legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter und drehte sie von dem Dokument weg. »Schau nicht auf das Blatt, Em, schau auf den Monitor.« Er deutete auf ein Computerterminal, das die Aufnahmen der Digitalkamera über dem Manuskript wiedergab. »Wenn da Chemikalien sind – eine unsichtbare Tinte beispielsweise –, die UV-Licht reflektieren, dann sind diese Reflektionen für das bloße Auge auch weiterhin nicht sichtbar. Wir müssen mithilfe der Kamera das reflektierte UV-Licht in eine Farbe umwandeln, die wir sehen können.« Er drückte ein paar Abfolgen von Tasten auf dem Keyboard. Das Display änderte sich, die Farbdarstellung war nun leicht verändert. »Ich hab den Computer das reflektierte UV-Licht durch sichtbare Rottöne ersetzen lassen. Je heller der Farbton, desto mehr UV-Licht wird von dem Blatt reflektiert.«

Sie studierten beide den Bildschirm vor ihnen. Obwohl Teile des Blatts ein röteres Leuchten zurückwarfen als andere, gab es nichts in dem Bild, das auf einen verborgenen Text hindeutete.

»Da ist nichts«, bemerkte Emily ruhig.

»Probieren wir es mit reinem Grün«, bot Michael an. »Obgleich UV die meistgenutzte Wellenlänge ist, um chemische Signaturen sichtbar zu machen, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind, hatte das Museum doch kürzlich einigen Erfolg mit isolierten Wellenlängen im RGB-Spektrum. Reines Grün, reines Rot. Licht schmaler Bandbreite reflektiert verschiedene Agentien auf unterschiedliche Weise.«

Er legte ein paar Schalter am Scanner um, und das von den Platten ausgesandte Licht verwandelte sich in ein konzentriertes, fremdartiges Grün. Doch wieder enthüllten die neuen Lampen und deren Farbgebung nichts auf dem Display des Computers. Michael wechselte zu einer dritten Einstellung, dann zu einer vierten, aber in beiden Fällen veränderte sich lediglich der Farbton des Manuskripts unter der wechselnden Strahlung. Der ohnehin bereits sichtbare Text blieb allein – unverändert.

»Verdammt!« Emilys Ausruf war nicht der einer leidenschaftslosen Wissenschaftlerin, die negative Ergebnisse erhält. Das bisschen Hoffnung auf irgendeinen Ausweg aus der Sinnlosigkeit der Tragödie am Morgen, das sie gehegt hatte, schwand dahin; die hellen Strahlen der Spektrallampen zeigten ihre Enttäuschung in greller Farbe.

»Gib noch nicht auf. Da kann immer noch etwas sein. Wir haben noch eine Farbe …« Michael änderte die Einstellung, sodass nun ein Strahl aus reinem Blau emittiert wurde – so dunkel, dass er Emilys Augen fast violett vorkam.

Ein leichtes Keuchen war zu vernehmen. Es kam von Michael.

»Würdest du dir das mal ansehen …« Auf dem Display war etwas Neues aufgetaucht. Auf dem Blatt wurden – nicht als gerade Striche, sondern in geschwungenen Formen – einige äußerst schwache, kaum erkennbare Linien sichtbar. Einen Moment zuvor waren sie noch nicht da gewesen.

»Ich kann es nicht erkennen. Es ist zu schwach.« Emilys Gesichtsausdruck hatte sich vollkommen verändert. Sie starrte auf den Monitor mit einer Intensität, die von plötzlicher Hoffnung beflügelt wurde.

»Kannst du die Strahlen so justieren, dass es etwas deutlicher wird?«

Michael tippte auf die Steuertasten, doch er wusste, die Mühe war vergebens. »Das ist die letzte Wellenlänge, die wir mit diesem Gerät bekommen.« Er veränderte die Bearbeitungseinstellungen am Computer, doch die Phantomlinien auf der Seite wurden keinen Deut klarer. Sie blieben ein quälendes Ärgernis: nicht deutlich genug, um das, was auch immer auf dem Blatt verborgen war, lesen zu können, aber deutlich genug, um absolut sicher zu sein, dass sich da etwas befand.

»Moment, Mike, vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit«, rief Emily auf einmal. Ihre Augen blickten nach wie vor starr auf das Display, ihre Gedanken rasten fast zu schnell, um sie richtig fassen zu können. Rasch ließ sie die halbgaren Ideen heraus – so, wie sie ihr in den Kopf schossen.

»Chemische Bestandteile sind nicht die einzige Möglichkeit, wie ein kluger Alchemist eine Botschaft verbergen könnte. Angenommen, er kannte sich ausreichend mit den Eigenschaften von Metallen aus, dann könnte er eine zu Puder zerstoßene Metalllegierung in einer klaren Base aufgelöst haben. Der Empfänger könnte ein bestimmtes Lösemittel verwenden, entweder um das Metall zu oxidieren oder zu entfärben, sodass der Text offenbar wird.«

Michaels Gesicht verriet seine Überraschung.

»Metallische Oxidation? Em, das ist ein bisschen …«

»Wenn das der Fall wäre«, schnitt sie ihm das Wort ab, während sie gleichzeitig weiter nachdachte, »gäbe es eine metallische Signatur, aber sie wäre nicht notwendigerweise chemischer Natur.«

Sie zögerte, hielt dann inne und atmete aus. Ihre technischen Fachkenntnisse waren erschöpft. Eine Idee, aber keine Antworten. Als sie sich umwandte, um Michael anzuschauen, erwartete sie, in seinen Gesichtszügen den Ausdruck von mitfühlender, unterstützender Geduld zu sehen, die, wie sie wusste, der weit hergeholte Gedanke verdiente.

Was sie stattdessen erblickte, war die nachdenkliche Miene eines Mannes, dem eine neue Idee in den Sinn kam.

»Oder …« – Michael formulierte seine Worte langsamer als gewöhnlich, da er in Gedanken immer noch die einzelnen Teile seiner Überlegungen sinnvoll zusammenfügen musste – »… es könnte ein Metall sein, das die hellen Wellenlängen, die uns zur Verfügung stehen, einfach nicht reflektiert. Manche Legierungen absorbieren das Licht, anstatt es zurückzuwerfen. Aber wenn es metallisch ist, dann könnte es sehr wohl auf einem …«

»Röntgenbild erscheinen«, fiel Emily ihm ins Wort, und ihr Gesicht hellte sich plötzlich auf. Sie drehte sich um und sah zu der Reihe von Röntgen-Geräten an der Wand gegenüber. »Und du hast mit Sicherheit den richtigen Apparat dafür.«

Der verborgene Schlüssel
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