Kapitel 15

FBI-Außenstelle, Chicago

Die Frau am Kopfende des langen Tisches erklärte mit einem knappen »Fangen wir an, Jungs« die Sitzung für eröffnet. Angela Dawsons Worte, mit vertrauter Autorität gesprochen, waren ihr kaum über die Lippen gekommen, als auch schon die Schnellfeuer-Kommentare der Besprechung einsetzten. Die Leiterin, bei der die ersten silberfarbenen Haare im braunen Schopf zum Vorschein kamen – die aber gleichwohl die Haltung und Stärke einer Frau besaß, die nur halb so alt wie sie selbst war –, pflegte alle in der Abteilung mit »Jungs« anzureden. Und alle – Männer wie Frauen – waren es gewohnt, dieses Wort zu hören.

»Die Drohungen vor Ort bewegen sich, soweit wir das erkennen können, im üblichen Rahmen, wie immer im Vorfeld eines bedeutsamen Ereignisses.«

»Alle relevanten Quellen werden überwacht.«

»Die Drähte laufen heiß. Großteils derselbe Scheiß wie vor den meisten Großereignissen. Das ist gut. ›Bekannt‹ bedeutet, dass es weniger Überraschungen gibt.«

Bis zur berühmten Parade am 4. Juli waren es nicht mal mehr zweiundsiebzig Stunden, und aufgrund der Bedeutung und Anzahl der Würdenträger, die daran teilnehmen würden, lag die Leitung der Sicherheitsvorkehrungen in ihren Händen.

Special Agent Ted Gallows, Chef der Sektion »Auswertung der Auslandsaufklärung«, lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er sprach mit starkem Bostoner Akzent und erinnerte damit alle in seiner Umgebung permanent daran – wenn das nicht schon seine Schroffheit und die Gabe schafften, jedem in seiner Gegenwart sofort ein unbehagliches Gefühl zu vermitteln –, dass der imposante Mann nicht im Mittleren Westen, sondern in den Geheimdienstoperationen der Ostküsten-Großstädte seine Wurzeln hatte.

»Unsere Aufmerksamkeit galt in der letzten Woche überwiegend den Großen Drei. Die Schwerter der Gerechtigkeit, die Kirche der Wahrheit in der Befreiung und die Soldaten für Gerechtigkeit haben alle Drohungen gegen die Parade veröffentlicht, und zu jeder haben sich Hintergrundinformationen ergeben, die nahelegen, dass es nicht nur leere Worte sein könnten.« Gallows, der seinen großen Stuhl nach hinten gegen die Wand gekippt hatte, sprach die dramatischen Sätze gelassen aus.

Wie üblich waren schon seit Wochen Drohungen eingegangen – ein normales Geschehen im Vorfeld jedes großen öffentlichen Spektakels. Im Augenblick belief sich die Zahl der Bombendrohungen auf sieben und die der angekündigten Attentate auf drei; Letztere betrafen den Bürgermeister, den Police Commissioner und den Führer einer der konservativsten Kirchen in der Stadt, die alle an dem Umzug teilnehmen würden. Es hatte sogar die Drohung gegeben, auf dem Willis Tower – nach wie vor besser bekannt als Sears Tower – einen Scharfschützen zu platzieren, der so viele Menschen abknallen würde, wie er Kugeln hatte. Und weil in diesem Jahr ein besonderes Aufgebot an religiösen Führern bei der Parade dabei sein würde – eine »Einheitsprozession« nannte der Gouverneur das –, waren pro- wie anti-religiöse Drohungen seit Monaten gehäuft hereingekommen. Größtenteils handelte es sich dabei um üble Scherze. Die Spreu vom Weizen zu trennen war das vorrangige Ziel der Gruppe, die sich im Besprechungsraum versammelt hatte.

»Die ›Schwerter der Gerechtigkeit‹ haben hier schon früher Ultimaten gestellt«, bemerkte die Stellvertretende Direktorin Dawson und warf einen Blick in ihre Notizen. »Vor zwei Jahren.«

»Fast auf den Tag genau. Sie drohten im vorletzten Jahr, die Parade am 4. Juli ›zu verheeren und zu zerstören‹.« Gallows beugte sich vor, und die Vorderbeine seines Stuhls setzten mit einem plötzlichen Knall auf dem Boden auf. »Einen Tag nachdem ihr Video eingetroffen war, lokalisierten unsere Agenten in der Fourth Presbyterian Church in der East Chestnut eine improvisierte Sprengvorrichtung.«

»Im Augenblick gibt es eine allgemein gehaltene Drohung, die auf zwei Touristen-Websites für die diesjährige Parade anonym gepostet wurde und die Behauptung enthält, nach zwanzig Minuten werde sich am Two Prudential Tower eine ›Explosion des Zorns‹ ereignen.« Diese Information steuerte Special Agent Laura Marsh bei, eine der wichtigsten Mitarbeiterinnen der Anti-Terror-Abteilung. Ihre sandblonden Haare waren ziemlich kurz geschnitten, und ihre haselnussbraunen Augen schienen vor Intensität zu leuchten. »Aber wir haben den Verdacht, dass das Trittbrettfahrer sind, die sich an den früheren MO der Gruppe halten.« Sobald ein modus operandi bekannt war, ließ er sich leicht nachahmen.

»Das ist egal«, warf Dawson ein. »Ich vertraue darauf, dass wir uns das Gebäude gründlich angeschaut und vor Ort die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt haben.«

»Wir haben das mit dem Bureau of Patrol der hiesigen Polizei koordiniert, um sicherzustellen, dass der ganze Block für die nächsten drei Tage mehr Personal hat«, teilte Alan Mayfair mit, ein weiterer Sektionschef der Chicagoer Außenstelle. Ein Mann, der für sein sonderbares Benehmen und seine Vorliebe, kurz und selten zu reden, bekannt war. »Die Ermittlungsabteilung der Polizei arbeitet mit uns an erweiterten Sicherheitskontrollen.«

»Mit den ›Soldaten der Gerechtigkeit‹ ist es so ziemlich das Gleiche«, erklärte Marsh. »Die Drohungen gingen in Form von Online-Postings bei örtlichen Diskussionsforen ein, aber die IP-Adressen der Posts führen zurück zu einer Reihe von Internet-Cafés, wo sich, wie wir wissen, Witzbolde treffen. Die Chancen stehen also gut, dass es leere Drohungen sind. Aber wie dem auch sei – wir haben definitiv die Ressourcen, um herauszufinden, wohin sie führen.«

Die Agenten der FBI-Division in Chicago waren stolz darauf, in ihrer Dienststelle zu arbeiten. Formal war die Division eine »Außenstelle«: ein Begriff, der ansonsten wie ein Gütesiegel für etwas Kleines, Mobiles und Situationsabhängiges benutzt wurde. Doch der weitläufige Komplex in der West Roosevelt Road, wo die Division mittlerweile residierte, war alles andere als ein zeitlich begrenztes Quartier. Das Chicago Division Field Office besaß innerhalb des FBI einen unschlagbaren Ruf. Nicht nur arbeitete die Außenstelle landesweit am effektivsten bei der Bekämpfung krimineller Aktivitäten – eine Reputation, die zurückging bis auf die Zeit, als das FBI in den 1930er-Jahren die Chicagoer Mafia und die Bandenkriminalität nach der Prohibition stoppte. Die Division in Chicago war darüber hinaus eine der aktivsten Schaltzentralen des Landes bei der Verteidigung der nationalen Sicherheit.

»Was ist mit der anderen Gruppe, dieser ›Kirche der Wahrheit in der Befreiung‹?«, erkundigte sich Dawson.

»Unsere Kenntnisse über sie sind bestenfalls als gering zu bezeichnen«, antwortete Ted Gallows. »Wir würden von ihnen überhaupt nichts wissen, wäre da nicht vor fast acht Monaten ein anonymer Anruf auf der Anti-Terror-Leitung gewesen. Eine Nachverfolgung war nicht möglich: Beim Rückruf war die Leitung tot, und die Information war zu allgemein, als dass sie auf der Prioritätenliste für eine detaillierte Überprüfung nach oben gewandert wäre.«

»Aber der Name steht seitdem in unseren Akten«, fügte Marsh hinzu, »und weil bei diesem Anruf der Name ›Chicago‹ fiel und irgendeine Art von Anschlag erwähnt wurde, haben wir hier die Augen offen gehalten.«

»Das ist keine Fraktion, die zuvor schon auf unserem Radar aufgetaucht ist«, berichtete Gallows. »Unsere Hintergrundrecherchen haben ergeben, dass es sich um eine Art religiöse New-Age-Gruppe handelt, die ursprünglich in Los Angeles saß. Ihre Rhetorik dreht sich größtenteils um Erleuchtung und Spiritualität, aber sie sind noch nicht wegen irgendwelcher Gewalttaten aktenkundig geworden.«

Die Stellvertretende Direktorin hatte allerdings das Video gesehen.

»Jungs, das ist keine gesicherte Annahme mehr.« Sie drückte auf eine kleine Fernbedienung auf dem Tisch, und auf einem an der Wand montierten Display begann ein unscharfes Internetvideo zu laufen.

»Auch wenn diese sogenannte Kirche der Wahrheit in der Befreiung keine terroristische Vergangenheit hat, so sieht es doch todsicher danach aus, dass sie versuchen, sich eine terroristische Zukunft aufzubauen.«

Der verborgene Schlüssel
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