Kapitel 34

FBI-Außenstelle, Chicago

Harry Pike war fix und fertig. Seine Verhaftung am Tag zuvor in New York City war handfester verlaufen, als er gedacht hatte. Seine Gelenke waren von den engen Handschellen lädiert, und die linke Seite seines Gesichts war voller geronnenem Blut, das reichlich geflossen war. Obwohl er das Gewehr noch vor dem ersten Befehl der Polizisten niedergelegt und sich ergeben hatte, ohne auch nur den geringsten Widerstand zu leisten, war er mit Gewalt auf das Pflaster geworfen und dort festgehalten worden, wobei einer der Beamten einen Fuß fest auf seinen Rücken drückte. Als sich der Stiefel endlich von ihm hob und der Druck auf sein Rückgrat und seine Rippen nachließ, rissen die Polizisten ihn auf die Füße, indem sie brutal an den gefesselten Handgelenken und Strubbelhaaren zogen, und schleuderten ihn anschließend mit der Sanftheit von Catchern gegen einen Streifenwagen.

Als dann sein Fall bearbeitet und er offiziell in Gewahrsam genommen war, hatte sich allerdings die Situation geändert. Die Gefängnisabteilung der New Yorker Polizei war eine gutgeölte Maschinerie, die mit klinischer Effizienz funktionierte. Man hatte ihn sehr höflich und mit anständigem Benehmen vom Vernehmungsraum in die Zelle und wieder zurück gebracht. Er wurde gesäubert und gefüttert, und auch seine Verletzungen verarztete man. Er wurde mit »Mr Pike« angesprochen und jedes Mal gefragt, wenn man ihm die Handschellen abnahm oder anlegte, ob das angenehm sei. Und abgesehen von den häufigen Befragungen hatte man ihn überwiegend in Ruhe gelassen.

All dies hatte sich drei Stunden zuvor drastisch geändert. Ohne jede Vorwarnung wurde seine kleine Zelle im Brookline Detention Complex von drei Männern in Zivil gestürmt, die ihm eine Kapuze über den Kopf stülpten und seine Hände erneut fesselten, diesmal viel zu fest und ohne auch nur so zu tun, als schere man sich um sein Wohlbefinden. Er wurde aus dem Gebäude geführt, in einen Wagen gesetzt und kurze Zeit später die Stufen hoch in etwas geschubst, das, wie sich herausstellte, ein kleiner Düsenjet war. Nicht ein einziges Mal teilte man ihm mit, wohin er gebracht wurde.

Zweieinhalb Stunden später wiederholte sich die Prozedur in umgekehrter Reihenfolge. Als ihm wenige Minuten zuvor die Kapuze heruntergezogen wurde, befand Harry sich in einem anderen anonymen Vernehmungszimmer – Standort unbekannt. Die Wände bestanden aus Ziegelsteinen, die mit einer dicken Schicht türkisgrüner Farbe überzogen waren, und in der Luft hing der leichte Duft eines Reinigungsmittels für Holzböden. Eine Wand wurde fast vollständig von einem großen Spiegel bedeckt, und in der Mitte des Raums stand ein verbeulter Metalltisch, an den seine Hände – immer noch in Handschellen – nun gekettet waren. Die Leute, die ihn hierher geführt hatten, waren bereits gegangen, und außer ihm selbst hielten sich nur zwei Frauen und ein Mann in dem Zimmer auf. Der Mann saß auf der anderen Seite des Tisches. Vor ihm lag eine dicke, geschlossene Akte. Die Lampen in dem Raum waren zu grell. Harry gierte seltsamer- und unerklärlicherweise nach einer Pepsi.

»Wo bin ich?«, fragte Pike.

»Das ist nicht von Bedeutung.« Der Mann sprach mit Nachdruck. »Ich möchte auch darauf hinweisen, dass dies Ihre letzte Frage gewesen ist. Das wird eine Einbahnstraßen-Unterhaltung. Ich frage, Sie antworten.« Er hielt kurz inne, bevor er fortfuhr. »Wir üben das mal: Sagen Sie mir Ihren Namen.«

»Ich heiße Harry Pike. Aus New York.« Pike war nicht sicher, wohin er den Akzent des Mannes stecken sollte. Er hörte sich nach dem der Bostoner an. Bin ich etwa in Boston?

Der Mann ließ nach der Antwort ein unangenehm langes Schweigen verstreichen, währenddessen er Pike stur in die Augen starrte. Der junge Mann wand sich in seinen Handschellen.

»Das war nicht schwer, oder, Mr Pike? Kooperieren Sie weiter mit uns, und das hier wird glatt über die Bühne gehen.« Boston ließ wieder ein langes Schweigen im Raum hängen, dann fragte er unvermittelt: »Zu welchem Zeitpunkt sind Sie der Kirche der Wahrheit in der Befreiung beigetreten?«

Pike reagierte darauf mit sichtlicher Überraschung. »Was für eine Kirche? Ich bin nicht …«

Er kehrte in der Erinnerung kurz zu dem Moment seiner Festnahme zurück. Da waren so viele Polizisten gewesen, so viele Waffen. Er war verängstigt gewesen – aber doch nicht so verängstigt. So verängstigt war ich doch gar nicht, oder?

»Spielen Sie mir nichts vor, Mr Pike.« Der Mann tippte mit dem Finger auf die dicke Akte vor ihm. Sein Blick war reglos. »Wir wissen, Sie gehören der Kirche der Wahrheit in der Befreiung an. Wir wissen, Sie korrespondieren regelmäßig mit verschiedenen Mitgliedern der Kirche, und wir wissen, Sie erhielten vom Kirchenführer, Arthur Bell, persönlich Unterweisung.«

Pike, ein engagierter, aber noch unreifer Mann von siebenundzwanzig Jahren, zeigte erste Anzeichen, dass er durcheinander war. »Ich weiß nicht, warum Sie …«

»Bitte«, schnitt ihm Boston erneut das Wort ab. Er hielt eine Hand hoch, die Innenfläche war Pike zugekehrt. »Tun Sie uns beiden den Gefallen, und versuchen Sie nicht, etwas in Abrede zu stellen, von dem wir beide wissen, dass es wahr ist.«

Der Mann redet hochtrabend, dachte Pike, der trotz seiner wachsenden Angst angewidert war. Ein Mann sollte nicht hochtrabend reden – es sei denn, er ist jemand.

Er wurde still. Die Fragen des hochnäsigen Agenten brachten ihn ein wenig aus dem Gleichgewicht, doch er wusste, dass seine Aufgabe bereits erfüllt war. Er musste überhaupt nichts machen und auch nichts mehr sagen. Er hatte seine Rolle gespielt, und der Große Anführer würde dafür sorgen, dass seine Mühen – und was auch immer mit ihm jetzt geschehen würde – nicht vergebens waren. Harry hatte tiefstes Vertrauen in seinen Anführer.

»Sie wissen, dass Arthur Bell tot ist?«, fragte der Vernehmungsbeamte plötzlich und beugte sich vor.

Diese Worte ließen beim jungen Pike die Stützen des Selbstbewusstseins auf der Stelle einstürzen. »Nie im Leben!«, widersprach er sichtlich erzürnt. »Das ist nicht wahr. Sie sind ein verlogener Hurensohn!«

»Also kennen Sie ihn.« Boston beäugte mit gerunzelter Stirn den jungen Mann. Pike wurde starr, und seine Welt begann zu zerbröckeln.

Special Agent Ted Gallows war bei Harry Pikes Verhör die Führungsrolle übertragen worden, und die Vernehmung hatte gut angefangen. Er hatte die Kontrolle. Der Verdächtige wankte.

»Sie lügen!«, wiederholte Pike. Seine Kehle schien ganz trocken geworden zu sein, er vermochte die zwei Wörter nur herauszukrächzen.

Gallows blätterte durch die aufgeschlagene Akte, bis er zu einer Seite kam, die seine Aufmerksamkeit zu erregen schien. Er stieß mit dem Zeigefinger darauf. »Das ist der Einsatzbericht von den Beamten, die Arthur Bell vor nur fünfundvierzig Minuten erwischt haben«, sagte er. Er nahm die Seite heraus und schien in dem Dokument weiterzulesen. »Von vierzehn Schüssen getroffen.« Er legte das Blatt nieder und starrte Pike in die Augen. »Genau das passiert, wenn man sich auf der falschen Seite eines SWAT-Teams des FBI wiederfindet.«

Pike antwortete nicht. Sein Gesicht konnte nicht verbergen, dass seine Gedanken verzweifelt hin und her schwirrten.

»Wir haben seine Identität und seinen Aufenthaltsort aus Ihren Gesprächen und E-Mails erschlossen. Und mithilfe Ihres Videos.«

Harry Pikes Gesichtsfarbe ging von Blass in Kalkweiß über.

Gut, dachte Gallows. Jetzt steht er auf der Kippe. Er verlässt sich auf diesen Mann. Zieh ihm den Boden unter den Füßen weg.

»Arthur. Bell. Ist. Tot«, erklärte er, wobei er jedes einzelne Wort betonte. Dann steckte er das Blatt in die Akte zurück. Pike brauchte nicht zu erfahren, dass es sich dabei nur um den Ausdruck einer E-Mail von Gallows handelte. Es hatte keinen Einsatz, kein Team, keine Exekution gegeben. Das FBI hatte nach wie vor keine Ahnung, wer Arthur Bell war und wo er sich aufhielt.

Gallows ließ in seinem Verhalten nichts davon erkennen. Er setzte ein gut geübtes leichtes Lächeln auf, als amüsiere ihn die Gelegenheit, Harry Pike seiner Hoffnung zu berauben.

Der Gefangene war inzwischen vollkommen weiß, seine Haut klamm. »Lügner«, flüsterte er, doch der Behauptung fehlte jede Kraft. Allen im Raum, vermutlich auch Pike, war klar, dass er die Erwiderung selbst nicht glaubte.

Ted Gallows schlug mit der Faust so laut auf den Tisch, dass es von den Wänden widerhallte. »Hören Sie zu, Sie unfähiger kleiner Scheißkerl: Ihr Anführer ist tot. Ihn weiter zu schützen hat keinen Sinn mehr. Alles, was Sie noch tun können, ist, Ihre eigene Lage zu verbessern. Kooperieren Sie mit uns. Helfen Sie uns, und wir können vielleicht dafür sorgen, dass der Trip nach Guantanamo Bay wieder vom Tisch kommt.«

»Guantanamo?« Pikes Augen weiteten sich.

»Sie gelten als Terrorist und enger Partner eines Terroristenchefs«, verkündete Gallows. »Und bei Mitgliedern einer Terrorgruppe ist es selbstverständlich, dass sie nach Guantanamo geschickt werden. Sie haben schon Ihr Ticket.« Er beugte sich vor und sprach in einstudiertem drohenden Ton. »Und nur ganz wenige bekommen einen Rückfahrschein.«

»Aber wir sind doch keine Terroristen!«, widersprach Pike.

Gallows sank wieder auf seinen Stuhl zurück, in seinem Gesicht war nur die Andeutung eines zufriedenen Lächelns zu sehen. »Schön, das zu hören. Warum erzählen Sie mir nicht einfach, wer ihr seid?«

Der verborgene Schlüssel
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