Kapitel 33

Amerikanische Botschaft, Grosvenor Square, London

Pünktlich um 16.18 Uhr erwachte ein kleines Handy, das in der Tasche eines augenblicklich verwaisten blauen Blazers steckte, zum Leben. Die Wiedergabe der MP3-Aufnahme, die als Klingelton diente, setzte ein, und aus dem winzigen Lautsprecher erklang Navy Blue and Gold, doch der Mann, der hätte rangehen sollen, befand sich nicht im Zimmer.

Zwanzig Sekunden später vibrierte das Handy immer noch. Dann, als der Klingelton gerade zurück auf Anfang sprang, schwang eine Tür auf, die zwei Meter entfernt war. Chris Taylor suchte zunächst seinen Schreibtisch ab und dann das Jackett, das dahinter über einem Stuhl hing. Einen Augenblick später hielt er das Telefon in der Hand.

Nach einem Blick auf die Anrufer-ID meldete er sich mit einem breiten Lächeln. »Mike! Ist schon eine Weile her.«

»Zu lange«, antwortete Michael, und schon war die alte Verbundenheit der beiden Freunde wiederhergestellt. Michael hatte in seiner Zeit als Architekturpraktikant in Chicago den dort geborenen FBI-Agenten kennengelernt, als Chris noch in der Außenstelle Dienst tat, bevor er die Karriereleiter aufstieg und an die Botschaft versetzt wurde. Damals in ihrer Chicagoer Zeit hatte Chris den Weg in einen der irischen Pubs gefunden, die Michael in Ermangelung eines anständigen englischen Äquivalents aufsuchte, und die beiden waren sich über schalem Guinness und den traditionellen Bargesprächen über den weitgehend schlimmen Zustand der modernen Gesellschaft nähergekommen. Ihre Freundschaft hatte auch nach Michaels Übersiedlung nach Minnesota fortbestanden, und bei dessen Hochzeit war Chris sogar Trauzeuge gewesen. Und nachdem Michael seine Stelle als Stipendiat am Britischen Museum in London angetreten hatte, war sein erster geselliger Anlaufhafen Chris und dessen neue Umgebung in der Botschaft gewesen.

»Ich dachte, wir wären erst nächste Woche verabredet«, sagte Chris. Er und Michael trafen sich mindestens einmal im Monat abends auf ein paar Drinks. Der »Männerabend« war eine Tradition, die sie beide hochhielten.

»Du hast recht, das sind wir«, antwortete Michael. »Aber ich muss dich eher sehen. Ist dein Terminplan in der Raubvogel-Festung flexibel?«

»Raubvogel-Festung« war ihr Spitzname für die Botschaft, seit Michael zum ersten Mal dort gewesen war. Der riesige graue Ziegelstein-Würfel hatte einstmals wie ein ehrwürdiges Monument der Macht inmitten einer Stadt voller Pracht und Herrlichkeit gewirkt, doch mit all den zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen und Patrouillen seit »9/11« schien er mittlerweile viel stärker einem Gefängnisblock zu ähneln, den man ins Zentrum eines dicht bevölkerten Geschäftsviertels hatte fallen lassen. Sperren leiteten den Straßenverkehr und die Fußgänger um den Komplex herum, Kameras lugten aus jedem Spalt oder Riss. Der massive, vergoldete Aluminium-Adler mit seinen zwölf Metern Flügelspannweite, der hoch über dem Eingang angebracht war, hatte Michaels Aufmerksamkeit erregt, als er das erste Mal auf das Gebäude zugegangen war. Ob der mich nun an Majestät und Freiheit gemahnen soll oder nicht, hatte er gescherzt, bei diesem grauen Himmel und diesen grauen Ziegelsteinen, über denen er hängt, sieht er doch etwas mehr wie ein zum Angriff bereiter Raubvogel aus. Noch am gleichen Tag war die Bezeichnung »Raubvogel-Festung« geprägt worden.

Chris ließ sich Michaels vage Bitte nur ein paar Sekunden lang durch den Kopf gehen. »Klar, Bud«, antwortete er dann. »Was ist denn los?«

Er wusste, dass Michael am anderen Ende der Leitung bei diesem Spitznamen zusammenzuckte. Chris Taylor rühmte sich selbst, so amerikanisch zu sein, wie es ein Mann nur sein konnte, ohne sich tatsächlich in Uncle Sam zu verwandeln; und seinen englischen Freunden ging er am meisten mit seiner Neigung auf die Nerven, jeden als Buddy – als Kumpel – zu bezeichnen. Vor ein paar Monaten hatte er die Anrede in Michaels Falls zu Bud verkürzt, mit dessen spöttischer, stillschweigender Duldung. Diese Kurzform war allerdings noch viel schlimmer, wie Michael bald darauf gemerkt hatte.

Der frotzelnde Ton verschwand aus Chris’ Stimme, als Michael anfing, ihm die Ereignisse des Morgens in aller Kürze zu erzählen. Er berichtete über Andrews Ermordung, die gestohlene Manuskriptseite sowie die geheime Karte, die auf der verbliebenen Seite versteckt war, und die Verwüstung ihres Hauses in Hays Mews. Michael wählte seine Worte sorgfältig, aber selbst das, was er in groben Zügen darlegte, klang dramatisch.

»Verdammt, Mike«, sagte Chris, als die kurze Schilderung zu Ende war, mit echter Besorgnis in der Stimme. »Du hast doch bestimmt auch unsere Jungs angerufen, oder?«

»Ja, die Ermittler haben das für Emily übernommen. Deshalb rufe ich dich nicht an.«

»Weswegen dann?«

»Wir fliegen nach Ägypten«, erwiderte Michael. Als Chris darauf nicht antwortete, fuhr er fort: »Emily ist überzeugt, dass die Karte eine Spur darstellt, der wir nachgehen können – was die Polizei nicht tun wird – und die uns den Mördern von Andrew näher bringt. Und Chris, uns ist klar, dass da etwas Größeres mit im Spiel ist. Wir beide wollen wissen, um was es dabei geht.«

Michaels Tonfall ließ kaum Zweifel: Er bat Chris um Hilfe. In der geschäftigen Infrastruktur der amerikanischen Botschaft am Grosvenor Square hatte er die Position eines Fachberaters für internationale Geheimdienstfragen inne, und diese Stellung entsprach seinen besonderen Talenten. Er war einst bei der Navy gewesen und in der Collegezeit dem Reserve Officer Training Corps beigetreten, doch nach dieser Tour war er voller Erwartungen ins Hoover Building in Washington eingezogen. In seiner Zeit bei der Marine war zutage gekommen, dass seine Stärke in der Analyse von Geheimdienstberichten bestand, und seit er ins FBI eingetreten war, hatte Chris sich auf die Anti-Terror-Aufklärung im Nahen Osten spezialisiert, großteils weil er sehr versiert darin war, zwischen den Zeilen der Berichte zu lesen und ein Gespür für geplante Aktionen von Gegnern zu entwickeln.

»Chris«, sagte Michael schließlich, »wir brauchen dich, um in dem, was da vor sich geht, einen Sinn zu finden.«

Chris hörte genau zu. Wie er wusste, taten das aber auch viele andere. Die Worte hallten in der Botschaft nicht von den Wänden zurück: Sie wurden vielmehr gesammelt, aufgezeichnet, analysiert. Sein Handy war sauber, aber die Wände des Büros nicht. Und obwohl Chris nicht davon ausging, dass Michael etwas Illegales vorschlug, wusste er doch eines: Als FBI-Agent konnte er nicht offen über etwas sprechen, bei dem auf britischem Boden die Ermittlungen der inländischen Polizei umgangen werden sollten.

»Lass uns darüber ausführlich reden«, bot er an. »Ich möchte von dir auch den Rest der Geschichte hören.«

»Nenn einen Ort.«

Chris wusste, dass ein öffentlicher Ort am besten wäre, und er konnte keinen besseren wählen als den, wo Michael und er zum ersten Mal auf britischem Grund zusammen etwas getrunken hatten. Es war förmlich ein Monument für den Glanz und die Herrlichkeit Londons.

»Komm ins Savoy, in einer Stunde.«

Der verborgene Schlüssel
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