Kapitel 27

Britisches Museum, London

Emily studierte den Bildschirm mit größter Aufmerksamkeit. Die Röntgenaufnahme ließ den Monitor in einem gespenstisch wirkenden bläulichen Weiß erstrahlen, vor dessen Hintergrund sich die verborgene Karte in kräftigen schwarzen Strichen abzeichnete.

Sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht sehen, was Michael daran so bekannt vorkam, obgleich seine plötzliche Intensität sie in freudige Erwartung versetzt hatte.

»Wie kann ich diese Karte denn kennen?«, fragte sie. »Das Dokument ist, mindestens, zweihundertfünfzig Jahre alt.«

»Schau genau hin«, antwortete Michael. »Sieh dir den Verlauf der Linien im vorletzten Kästchen an.« Die Karte war in drei quadratische Kästchen unterteilt, die jeweils einen Abschnitt einer längeren Reiseroute zu enthalten schienen.

Emily richtete ihre Aufmerksamkeit auf die handgezeichnete geografische Skizze des Kästchens, das er genannt hatte.

Konzentriere dich, befahl sie sich selbst. Er sieht da irgendetwas. Aber was nur?

»Richte dein Augenmerk auf die Lage des Flusses und die Umrisse der Landmassen«, forderte Michael sie auf und wies auf die entsprechenden Markierungen in der Karte. »Der Ort war vielleicht in der Antike nicht berühmt, aber heutzutage ist er es.«

Emilys Augen wanderten über den Bildschirm. Drei kleine Zuflüsse zu einem größeren Fluss schlängelten sich über das Blatt, und die Konturstriche deuteten auf ein Felsplateau, das am Rand steil abfiel.

Auf einmal fielen die Einzelteile an die richtige Stelle. Sie erkannte es wieder. Ein Kribbeln setzte in Emilys Rücken ein und breitete sich in ihre Arme aus.

»Mein Gott«, rief sie aus, ihre Stimme war jedoch nur ein angespanntes, hingerissenes Flüstern. »Das ist Nag Hammadi!«

Michael nickte. »Ohne jeden Zweifel.«

Eine grobe Zeichnung des Ortes von einem der bedeutendsten Manuskriptfunde des zwanzigsten Jahrhunderts schaute sie von dem Röntgen-Display an. Die Nag-Hammadi-Bibliothek hatte die Welt der Archäologen und Historiker erschüttert; diese Sammlung antiker Codizes zählte zu den wichtigsten, die jemals entdeckt worden waren. Michaels Verblüffung und seine Verwirrung waren nicht weniger stark als die von Emily, und er deutete auf den Rand einer länglichen Form, die auf einen Höhenrücken verwies.

»Wenn ich mich nicht irre, ist das der Steilhang, an dem das Dokumentenversteck 1945 entdeckt wurde.«

»Das ist unglaublich«, sagte Emily. Der kalte Schauer, der in ihrem Rücken eingesetzt hatte, lief ihr nun über den ganzen Körper. Sie hatte gehofft – verzweifelt gehofft –, dass sie etwas finden würden, durch das Andrews Ermordung mehr wäre als nur ein Versehen: etwas, das dem Tod ihres Cousins auch nur einen Hauch von Sinn verleihen würde. Vielleicht sogar einen Weg aufzeigen würde, wie man die dafür Verantwortlichen aufspüren könnte.

Nur eines hatte sie nicht erwartet … Das hier.

»Aber es ist mehr als nur eine Karte von Nag Hammadi«, erklärte Michael, während er weiter den Bildschirm akribisch absuchte. »Diese Karte weist über die Bibliothek hinaus noch auf etwas anderes.« Er schob seinen Finger auf das letzte Kästchen. »Nag Hammadi ist die letzte Zwischenstation, aber das Ziel selbst befindet sich hier.«

»Kannst du den Ausschnitt vergrößern?«, fragte Emily. Nach einigen Mausbewegungen hatte Michael das letzte Segment der Karte vergrößert.

»Da ist noch ein Höhenzug, weiter draußen in der Wüste.« Emily studierte die Details. »Über den weiß ich überhaupt nichts.«

Michael blickte mit zusammengekniffenen Augen auf das Gekrakel bei dem »X«, das den Zielort der Karte bezeichnete. Aufgrund der eigenartigen Leuchtkraft der Röntgenaufnahme konnte man das Geschriebene nur schwer lesen, aber die zwei Wörter neben der Markierung waren sehr auffällig. Während alle anderen Beschriftungen auf Lateinisch waren, gehörten diese beiden – und nur diese beiden – zu einer völlig anderen Sprache. Koptisch. Die Sprache der griechisch-ägyptischen Bewohner Nordafrikas in antiker Zeit.

Die Hauptsprache des alten Gnostizismus.

»Kannst du sie entziffern?«, fragte er und zeigte auf die beiden leicht verschwommenen Wörter. »Das zweite Wort sieht aus wie ohne. Koptisch für ›Fels‹. Das erste ist – ich kann es nicht genau lesen. Schoschl?«

Emily schüttelte den Kopf. Ihre Verblüffung nahm zu. »Nein, das ist Schoscht.« Sie deutete auf den kleinen Unterschied in der Schreibung der Buchstaben. »Das heißt ›Schlüssel‹.«

Michael nickte. Und plötzlich ging ihm die Bedeutung auf. »Ohne heißt ›Fels‹, man könnte es aber auch einfach mit ›Stein‹ übersetzen.«

Es war Emily, die die beiden Wörter zusammensetzte.

»Steinerner Schlüssel.«

Ihre Stimme war nur ein gebanntes Flüstern. »Die Männer, die Andrew umbrachten, sagten, das sei eine Karte zu einem steinernen Schlüssel.« Sie blickte ihrem Mann direkt ins Gesicht. »Sie hatten recht.«

Der verborgene Schlüssel
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