Kapitel 75

FBI-Außenstelle, Chicago

Das erste Anzeichen, dass etwas nicht stimmte, war die Tatsache, dass Agent Lewis nicht wie vereinbart um 4.00 Uhr morgens Bericht erstattet hatte. Lewis war der penibelste Agent, der Laura Marsh je begegnet war, ein Mann, der Pünktlichkeit in Intervallen von fünfzehn Sekunden maß. Als ihr Bürotelefon um 4.02 Uhr immer noch nicht geläutet hatte, wusste Marsh, dass etwas schiefgelaufen war.

Ihre Vermutungen verstärkten sich, als die an sein Handy gesandte SMS nicht beantwortet wurde. Das Einzige, das noch verlässlicher war als Agent Lewis’ Pünktlichkeit, war seine Reaktionsschnelligkeit am Handy. Doch an diesem Morgen – nichts. Nicht nach der ersten SMS, nicht nach der zweiten. Zwei weitere Anzeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung war, und schon eines hätte völlig gereicht.

Marsh schritt zum Aufzug am Ende des Korridors im achten Stockwerk, und als dessen Türen aufgingen, trat sie hinein und tippte den Zugangscode für das dritte Untergeschoss ein. Mit einem beruhigenden »Bestätigungs-Ping« schlossen sich die Türen, und der Aufzug glitt sanft nach unten.

Was um Himmels willen kann ihn bloß abhalten?, fragte sie sich, während sie spürte, wie ihre Füße durch die Trägheitskraft leicht angehoben wurden, als der Fahrstuhl sich nach unten in Bewegung setzte. Vielleicht hat er ja etwas gefunden. Und es muss etwas Wichtiges sein, wenn es ihn wie vorhin an jeder Kontaktaufnahme hindert. Sie fühlte sich etwas ermutigt. Vielleicht war das Schweigen des Agenten kein negatives, sondern ein positives Zeichen.

Der Aufzug fuhr langsam nach unten, und die Möglichkeit, das Ganze optimistischer zu interpretieren, veranlasste Laura, ihre Gedanken einen Augenblick lang in eine gänzlich andere Richtung wandern zu lassen. Ihr Blick fiel auf das runde Metallgeländer, das in Taillenhöhe an drei Wänden umlief, und sie kehrte im Kopf zurück zu einer Begegnung in ebendiesem Aufzug ein Jahr zuvor. Es war ihr erster Moment allein mit Special Agent Chris Taylor gewesen – vor seiner Überstellung an die Botschaft in London. Als die Türen sich geschlossen hatten, war sie plötzlich Seite an Seite mit dem Mann gewesen, auf den sie insgeheim schon seit Wochen ein Auge geworfen hatte. Laura hatte das Geländer fest gepackt, um sich aufrecht zu halten, völlig perplex über die Intensität ihrer Gefühle, die sie in seiner Anwesenheit empfand.

Noch heute – trotz allem, was da sonst vor sich ging – jagte ihr diese Erinnerung eine Hitzewallung in die Brust. Chris würde später am Tag eintreffen. Sie hatte ihn nicht gesehen seit … damals.

Sie lachte laut auf und schüttelte den Kopf. Vielleicht war der Anflug von Romantik zwischen ihnen doch mehr als nur schwach gewesen.

Während die Stockwerkslämpchen nacheinander an- und ausgingen, konzentrierte sie sich wieder auf das ungeklärte Schweigen von Special Agent Lewis.

In welche Trance auch immer er sich versenkt hat – ich werde ihn aus ihr herausreißen müssen, wenn ich erfahren will, was er herausgefunden hat.

Laura Marsh wurde in einem Sekundenbruchteil klar, dass ihr dies niemals gelingen würde. Als die Aufzugstüren auf Stockwerk B3 auseinanderglitten, war jede Hoffnung, Lewis’ Schweigen könnte ein gutes Zeichen sein, wie weggeblasen. Der normalerweise ruhige, halbdunkle Flur im dritten Untergeschoss war hell erleuchtet und erfüllt von hektischer Aufregung. Das Gedränge war so groß, dass Marsh nach dem Verlassen des Aufzugs schon nach knapp zwei Schritten von einem leitenden Ermittler beiseite geschoben und von einem Hausfotografen überholt wurde. Der Flur war vollgestopft mit Agenten und anderen Mitarbeitern, ja sogar mit Angehörigen der städtischen Polizei.

»Was soll das alles?«, fragte Marsh einen Agenten in der Nähe, der ähnlich wie sie in dem Gedränge feststeckte. Sein Namensschild verriet, dass sein Büro auf diesem Korridor lag.

»Es hat einen Toten gegeben. Einer unserer Agenten wurde hier getötet, in seinem Büro. Irgendwann in der Nacht.«

Marsh zog sich der Magen zusammen. Ihre Schläfen begannen zu pochen – diese wissende Vorahnung, die stets so schmerzhaft auftrat. Obgleich sie instinktiv wusste, dass sie die Antwort schon kannte, musste sie doch fragen.

»Wer?«

»Agent Scott Lewis«, antwortete der Mann und bestätigte damit ihre Vorahnung. »Er wurde in seinem Büro umgebracht, sein Computer offenbar eingesackt und mitgenommen. Eine echte Sauerei.«

Ob der Mann mit seiner Schilderung fortfuhr oder nicht, sollte Marsh nie erfahren. Ihre Gedanken rasten, ihre Ohren nahmen die disharmonischen Geräusche der Umgebung nur noch gedämpft wahr. Sie stolperte rückwärts zurück in den Aufzug und schlug mit leerem Blick die Faust auf die Taste ihrer Etage. Sie schloss die Augen, noch bevor die Türen die harte Realität aussperrten, mit der sie nun konfrontiert war.

Die Ermordung von Agent Lewis konnte nur eines bedeuten: Es gab einen Maulwurf. Wo auch sonst immer die Sekte sein mochte, sie war genau hier, in ihrem Gebäude – im Herzen des FBI.

Der verborgene Schlüssel
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