Kapitel 126
Magnificent Mile, Chicago
»Wo zum Teufel sind all meine Männer?« Ted Gallows’ Blick wanderte besorgt über den Platz.
Der Körper von Angela Dawson lag reglos zu seinen Füßen. Er hatte ihr bereits Handschellen angelegt, und da es ihm an der passenden Ausrüstung mangelte, um noch mehr zu tun, hatte er ihre Fußknöchel mit einem zweiten Paar Handschellen gefesselt. Ihre Splitterschutzweste hatte die beiden Kugeln von Chris davon abgehalten, in ihre Brust einzudringen, aber er war so nah gewesen, dass sie Dawson zu Boden geworfen und ihr die Luft aus den Lungen gepresst hatten. Gallows hatte ihr ein Knie auf die Körpermitte gedrückt und sie sofort gefesselt.
Die kurze Panik, die infolge der Schüsse aufkam, war durch den Anblick ihrer FBI-Jacken und –Abzeichen unterdrückt worden, aber die Anstrengung, die dazu nötig gewesen war, hatte Gallows’ Aufmerksamkeit auf eine verstörende Tatsache gelenkt. Auf dem Platz befanden sich fast keine FBI-Leute.
»Sie sind überall«, antwortete Marsh, »doch nur nicht hier. Wir dachten schon, Sie hätten das Suchraster manipuliert, um die Teams von dem Ort hier fernzuhalten.«
Gallows wandte seinen Blick Laura zu und dann Chris. »Sie sind nicht die Einzigen, die vermutet haben, dass es einen Maulwurf gibt!«, rief er. »Bei meiner Arbeit in den letzten zwei Tagen bin ich von dem Verdacht ausgegangen, dass jemand beim FBI zur Kirche der Wahrheit in der Befreiung gehört. Genau aus diesem Grund wollte ich nicht, dass Sie Ihre Informationen über Bell weitererzählten.« Gallows schaute Chris direkt an. »Ich wusste nicht, wem man vertrauen konnte.«
»Jesses, Sie hätten aber auch was sagen können«, erwiderte Chris mit lauter Stimme.
»Sie waren doch erst ein paar Minuten vor Ort. Sehen Sie es mir nach, wenn ich Ihnen nicht gleich jeden Verdacht, den ich hegte, anvertraut habe!«
»Jungs«, gab Marsh zu bedenken, »die Tatsache bleibt bestehen, dass wir auf die Spitze des Turms müssen. Der Mann ist immer noch da oben. Wir müssen los, und zwar jetzt!«
Gallows schaute nach oben, dann auf die Menschenmassen um sie herum. »Sie beide gehen schon mal auf den Turm. Ich überstelle Dawson in die Hände unseres Teams und beschaffe Verstärkung für einen richtigen Angriff.«
»Das wird ein enges Manöver da oben«, sagte Chris, während er den Ort der anstehenden Aktion gründlich betrachtete. »Wenn der Bomber noch jemanden dabeihat, werden wir beide allein ihn schwerlich stoppen können.«
»Es wird einfacher mit uns im Rücken.« Michaels Stimme drang plötzlich zur Gruppe. Er ging zu Chris und Marsh. Emily war neben ihm. »Wir haben gerade Arthur Bell im Gewahrsam der Polizei gelassen. Ein bisschen Hilfe von außen ist nötig gewesen, aber nun hat der ›Große Anführer‹ nicht mehr die Führung inne.«
»Wer zum Teufel sind die beiden?« Gallows deutete auf Michael und Emily, sein Gesicht ein besorgtes Fragezeichen.
»Freunde.« Das war alles, was Chris antwortete. »Für eine persönliche Vorstellung haben wir keine Zeit, Ted.« Er drehte sich zu Michael um.
»Wir sind schon einmal auf Bells Männer getroffen«, merkte Emily an. »Wir können dir ein wenig zusätzliche Manpower geben, bis eure Verstärkung eingetroffen ist.«
»Sie sind Angehörige der Polizei?«, wollte Gallows wissen. Er sah zurück zum Turm. Die Zeit wurde knapp.
»Dann nein, verdammt. Die zwei da bleiben hier. Und Sie beide setzen sich jetzt in Bewegung.«
Emily erkannte, dass seine Entscheidung unumstößlich war. Es gab keine Möglichkeit, dass dieser Mann sie oder Michael mit Chris und Laura auf den Turm hochließ. Und sie verstand ihn: Die FBI-Vorschriften erlaubten es nicht, dass Zivilisten an einer Erstürmung teilnahmen.
Der Agent hatte recht. Aber sie hatte nicht vor, das zu akzeptieren.
Sie machte einen schnellen Schritt nach vorn und streckte die Hand nach unten in Richtung Angela Dawson aus. Die Waffe, die nur kurze Zeit zuvor auf Chris’ Kopf gerichtet war, lag ein paar Zentimeter neben Dawsons Hüfte. In einer fließenden Bewegung schnappte Emily sie sich, hielt sie fest und wich nach hinten zurück, um sie kurz zu prüfen. Die Beretta war geladen und entsichert.
Sie sah Ted Gallows geradewegs in die Augen, und bevor er Widerspruch einlegen konnte, erklärte sie: »Wir haben keine Zeit, unsere Leute brauchen Verstärkung, und das ist nicht das erste Mal, dass ich eine Waffe in der Hand halte. Protestieren Sie, so viel Sie wollen, aber ich gehe auf diesen Turm.«
Sie starrten sich an. Gallows’ Lippen wollten fast schon Worte bilden, aber Emilys Augen standen in Flammen. Den Bruchteil einer Sekunde später wandte sie den Blick ab, drehte sich zum Wasserturm um und bewegte sich bereits auf ihr Ziel zu.
»Damit sind wir vier«, verkündete Chris. »Mit vier Leuten können wir ihn zumindest in Schach halten.« Er zog eine zweite, kleinere Pistole aus seinem Brustholster und reichte sie Michael. Er wusste, dass sein Freund Waffen hasste, aber er hatte auch gehört, dass Michael in Kairo auf Bells Männer geschossen hatte. Das reichte, um unter den gegebenen Umständen in ihm einen Aktivposten zu sehen.
»Schicken Sie uns nur schnell Unterstützung hinterher«, sagte er zu Gallows. »Und bringen Sie Scharfschützen in Stellung. Entweder bringen wir ihn mit Worten zur Vernunft, oder wir strecken ihn nieder, und wegen der Weste, die er trägt, muss es eine saubere, schnelle Tötung sein.«
Und dann rannte er los. Mit Michael und Laura im Schlepptau jagte er hinter Emily her auf den Turm zu.
Der Haupteingang im Erdgeschoss des Old Water Tower war aufgebrochen worden. Der Mann oben auf dem Turm hatte sich gewaltsam Zutritt verschafft, und obwohl er seine Spuren zu verwischen versucht hatte, indem er die Tür hinter sich schloss und das Wenige vom Schließmechanismus, das er nicht kaputt gemacht hatte, wieder an seinen Platz schob, leistete die Tür kaum Widerstand. Chris versetzte ihr direkt auf dem Schloss einen Tritt, und sie sprang auf.
Emily und Michael blieben hinter Chris und Laura, während sie die steile Wendeltreppe zur Spitze des Turms hochrannten. Sie bewegten sich so geräuschlos wie nur möglich. Mit ein bisschen Glück würde die Aufmerksamkeit des Bombers auf die Menschenmenge unten gerichtet sein, und sie könnten das Überraschungsmoment nutzen.
Der Turm war herrlich. Das eklektische, pseudo-gotische Bauwerk sah im Erdgeschoss wie eine aufwendig verzierte, burgähnliche Konstruktion mit Säulen, Türmchen und Bogenfenstern aus und ging dann in den eigentlichen Wasserturm über: ein achteckiger Kalksteinbau, der siebenundvierzig Meter hoch in den Himmel von Chicago ragte, mit einer Wendeltreppe zum Dach, unter dessen Kuppel sich einst der Kontrollraum befunden hatte.
Renn! Emilys Verstand raste. Der Aufstieg dauert zu lange. Als sie Bell mit der Hilfe des Kardinals überwältigt hatten, war der Große Anführer mit dem Gebet fast fertig gewesen. Die Rezitation seiner Anhänger würde gleich zu Ende sein. Wie lange wird der Mann warten, bis er handelt?
Sie hastete mit ganzer Kraft vorwärts, nahm zwei oder drei Stufen auf einmal. Chris und Laura eilten mit eingeübten Laufschritten voraus.
Eine Minute später sahen sie sich am Ende der Treppe mit einer Tür konfrontiert. Dahinter war die Spitze des Turms – und der Bomber.
»Ihr beide bleibt hinter uns«, ordnete Chris an. Er und Laura stellten sich zu beiden Seiten neben der Tür. Sie wussten immer noch nicht, ob der Mann da draußen Verstärkung hatte oder außer der Weste an seinem Oberkörper noch weitere Waffen mit sich führte. Aber wie die Sachlage auch genau aussehen mochte, ihre kleine Gruppe würde sich direkt damit auseinandersetzen müssen. Sie hatten keine Zeit, zu warten, bis Gallows Scharfschützen ins Spiel gebracht hatte.
Chris atmete tief und kontrolliert durch. Dann presste er die linke Hand auf den Metallriegel, der quer über die Tür verlief, und mit der gezogenen Waffe in der rechten Hand drückte er dagegen.
Die Tür öffnete sich, und die leuchtende Morgensonne strahlte ihnen entgegen. Der Lärm der Menschenmenge traf plötzlich wie eine riesige Schallwelle ihre Ohren.
Vor ihnen stand, absolut ruhig, ein Mann. Um seinen Oberkörper herum trug er seine selbstgebaute Waffe, und in der Hand hielt er den Auslöser.