Kapitel 72
Gaddis Suites, Assiut
Die Fenster und Böden des Hotels bebten, als der Sikorsky UH-60 neben den neun Geschossen des Gebäudes nach unten sank. Seine Scheinwerfer strahlten in der Dunkelheit, und die Gäste gafften durch die schlecht geputzten Glasscheiben nach draußen. Nach einem langen und langsamen Abstieg setzte der Hubschrauber auf dem Asphalt des Hotelparkplatzes auf.
Emily ließ sich von dem donnernden Lärm und dem Anblick ablenken, allerdings nur kurz. Als sie vom Fenster zurückkehrte und sich wieder an den Schreibtisch setzte, unterhielt sich Michael mit Chris und half ihm, seine Siebensachen zusammenzusuchen. Sie und Chris hatten sich bereits Lebewohl gesagt, und in Gedanken war sie nun erneut voll und ganz mit dem Rätsel vor ihr beschäftigt.
Ihre Zeichnung des steinernen Schlüssels lag immer noch auf dem Schreibtisch – direkt neben dem aufgeklappten Laptop, auf dem die Scans der Nag-Hammadi-Codizes zu sehen waren.
Emily war sich sicher, dass die Gravuren auf dem Stein irgendwie auf den richtigen Text in der größeren Schriftsammlung verweisen mussten, der damit entschlüsselt werden sollte. Sie musste nur noch herausfinden, welcher Bereich des steinernen Schlüssels die richtige Schrift anzeigte.
Ein offenkundiger Kandidat war der zentrale Kreis der Zeichnung. Die drei konzentrischen Ringe enthielten jeweils dreiunddreißig Symbole, die, wie Michael bereits bestätigt hatte, die zweiunddreißig Buchstaben sowie ein Sinnbild des koptischen Alphabets darstellten. In der Mitte der Zeichnung stand eine Gruppe von fünf Buchstaben, die über drei Ziffern geschrieben waren. Die drei Ringe, daran bestand für Emily kein Zweifel, bildeten die Chiffre selbst. Folglich musste es der Inhalt dieses zentralen Teilstücks sein, der den zu entschlüsselnden Text angab.
Sie blickte lange auf die fünf Lettern im Zentrum der Zeichnung:

Sie überprüfte die Buchstaben mit jedem koptischen Lexikon, das sie online fand, und alle ergaben dasselbe Resultat: nichts. Das Wort war trotz der Schrift nicht koptisch.
Was kann das sein? Emily trommelte mit den Fingern unruhig auf den Schreibtisch. Sie war sich sicher, dass diese Buchstaben auf den gesuchten Text hinwiesen, aber sie stellten eindeutig kein Wort dar. Und auch keinen Namen. Aber könnten sie nicht … ein Incipit sein? Der Gedanke kam ihr unvermittelt. Alte Texte wurden fast nie mit ihren ausgewiesenen Titeln genannt. Stattdessen wurden sie beinahe immer mit ihrem Incipit bezeichnet, also mit den ersten Worten des Textes selbst. So nannten die antiken Gläubigen den Psalm 51 »Gott, sei mir gnädig« und die frühen Christen, wie auch die traditionell denkenden Menschen von heute, das von Jesus gelehrte Gebet nicht »Gebet des Herrn«, sondern nach seinem Incipit das »Vaterunser«.
Emily wandte sich mit neu gewonnenem Elan wieder dem Bildschirm ihres Computers zu. Vom Anfang der Bibliothek ausgehend, überprüfte sie die ersten Zeilen aller Traktate und suchte nach Kombinationen aus den fünf Buchstaben in der Mitte des steinernen Schlüssels. Ihr Herz klopfte rasend, aber gut fünf Minuten später gelangte sie ans Ende, ohne auch nur eine Zeile gefunden zu haben, die mit diesen Lettern begann.
Irgendetwas übersehe ich immer noch. Sie tippte sich an die Stirn, vielleicht würde ihr ja auf diese Weise etwas einfallen. Wir haben es hier mit Geheimnissen zu tun, mit einer einfachen antiken Verschlüsselung. Sie zermarterte sich das Hirn, was das für die Anweisung im zentralen Segment der Zeichnung bedeuten könnte. Das kann nicht verschlüsselt sein, sonst wäre noch eine völlig andere Chiffre nötig. Aber es könnte schlicht … Sie hielt inne. Die Idee war so simpel, dass sich der Versuch fast nicht zu lohnen schien. Aber da keine alternativen Ansätze vorlagen, ließ Emily sich auf eine weitere Runde »Versuch und Irrtum« ein.
Sie klickte zurück zur ersten Seite von Codex I
und begann mit der Analyse von vorne, doch diesmal drehte sie die
Anordnung der Buchstaben auf dem steinernen Schlüssel um. Anstatt
nach einem Incipit zu suchen, das mit begann, suchte sie nun nach
.
Die Lettern in dieser Reihenfolge bedeuteten auf Koptisch immer
noch nichts, doch sie konnten sehr wohl der Anfang eines längeren
Wortes sein.
Nur eine Minute später, in der Mitte von Codex I, fand sie es. Dort stand, von antiker Hand geschrieben, das Incipit eines Traktats, das mit ihren fünf Buchstaben begann:

Gerade als Emily verblüfft auf den Monitor starrte, betrat Michael wieder das Zimmer. Er war voller Energie und begeistert von dem Hubschrauberlärm und der summenden Geschäftigkeit rund um die dramatische Aktion, mit der das FBI Chris abholte.
»Ich hab ihn gerade verabschiedet«, berichtete er, als er zu Emily an den Schreibtisch schritt. »Er fliegt erst nach Alexandria und von dort gleich unmittelbar nach der Landung weiter nach Chicago. Ich hab ihm gesagt, wir würden alle paar Stunden anrufen, um uns zu melden und ihm zu bestätigen, dass es uns gut geht.«
Er blieb hinter Emily stehen, legte ihr die Hände auf die Schultern und fing an, ihren verspannten Nacken zu massieren. Es war das erste Mal, dass sie miteinander allein waren, seit ihr Abenteuer begonnen hatte.
»Wir werden uns hier nicht allzu lange ausruhen können«, sagte er. »Wenn wir rechtzeitig nach Kairo kommen wollen, sollten wir noch heute Abend aufbrechen. Es sind mindestens fünf Stunden Fahrt.«
Emily schob zart seine Hände von ihren Schultern und drehte sich auf ihrem Stuhl zu ihm um. »Mike, ich weiß genau, hinter welchem Text sie her sind.«
Er hob perplex eine Augenbraue. »Wie das?«
»Es steht direkt auf dem steinernen Schlüssel.« Emily deutete auf ihre Zeichnung und legte einen Finger auf deren zentrales Segment. »Diese fünf Buchstaben sind ein abgekürztes Incipit, und zwar in umgedrehter Reihenfolge. Ein simpler falscher Anfang, um zufällige Betrachter zu täuschen. Wenn man sie umkehrt, bilden sie die Eingangssequenz eines Schlüsseltextes der Nag-Hammadi-Bibliothek.«
Michael spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. »Welcher?« Er beugte sich zum Bildschirm des Laptops vor, und dann keuchte er, als er die Antwort selbst las. »Das Evangelium der Wahrheit.«
Emily blickte ihm direkt in die Augen. »Könnte es ein passenderes Dokument für eine Gruppe von modernen Gnostikern geben, die auf der Suche nach Wahrheit und Erleuchtung sind?«
»Das ist ein mystischer Text, wie er im Buche steht«, bestätigte Michael. »Voller Anspielungen auf Geheimnisse, Offenbarungen und das mystische Empfangen von Wahrheit und Leben.«
»Und wenn wir nicht als Erste an ihn rankommen, werden Bell und seine Männer sich ihn mit allen Mitteln verschaffen. Und wenn Chris recht hat, dass da eine Verbindung zwischen dem, was hier vor sich geht, und der alarmierenden Bedrohung in Chicago besteht … Gott allein weiß, was Bell damit zu tun beabsichtigt, wenn er den Text erst in Händen hat.«