Kapitel 31
Erste-Klasse-Lounge, Paddington Station, London
Marcianus saß gemütlich in der Lounge von British Rail, mit einem Drink neben sich und der Anzeigetafel der Abfahrtszeiten unmittelbar vor sich. Ein paar gut gekleidete Geschäftsleute aus der City waren im Raum verteilt und überwiegend mit sich selbst beschäftigt, aber keineswegs außer Hörweite. Doch aufgrund der zeitlichen Beschränkungen, die durch seine Reisen bedingt waren, hatte er keinen diskreteren Ort für ein Treffen arrangieren können.
In einem Plüschsessel zu seiner Rechten saß Simon, der sichtlich ängstlicher geworden war. Seine Augen waren gerötet und glasig, wie bei einem Mann, der zu viel getrunken hatte, und für einen ganz kurzen Moment fragte Marcianus sich, ob Simons Versagen selbst verschuldet war.
»Du bist absolut sicher, dass sie dort nicht war?«, fragte er, nun schon zum dritten Mal.
»Ja, ich habe mit Augen und Händen jeden Zentimeter des Hauses abgesucht. Ich kann absolut garantieren, dass die zweite Seite nicht da war.«
Der Große Anführer grübelte darüber nach, was das bedeutete. »Dann muss sie davon wissen oder zumindest misstrauisch sein.«
»Genau meine Gedanken, Meister.« Simon sprach das letzte Wort leise aus. Er wollte mit ihren ehrerbietigen Anredeformen keine unangemessene Aufmerksamkeit erregen. »Wir wissen, dass sie das Manuskript gestern abgeholt hat und zu Hause aufbewahren wollte, bis sie die Gelegenheit haben würde, es nach Washington zu bringen.« Er versuchte, seine Verärgerung nicht in seinem Tonfall durchklingen zu lassen. »Da die zweite Seite jetzt nicht dort ist, muss sie diese mitgenommen haben, als sie heute Morgen nach der Polizei das Haus verlassen hat.«
»Was sie nicht getan hätte, wenn sie nicht spüren würde, dass dieses Blatt wichtig ist.« Marcianus kratzte sich mit den Fingern an den Knien, doch seine graue Baumwollhose schluckte das Geräusch.
Simon zögerte. »Die Existenz der Karte ist ein streng gehütetes Geheimnis, von dem nur wir wissen. Auf dem Dokument gibt es keine verräterischen Anzeichen.«
»Vielleicht weiß sie, um was es sich handelt, vielleicht aber auch nicht«, sagte der Große Anführer. »Aber es lohnt nicht, das Risiko einzugehen und darauf zu hoffen, dass sie es nicht weiß. Wenn sie auch nur den leisesten Verdacht hegt, was das Dokument enthalten könnte, wird sie der Sache nachgehen. Als du ihren Cousin getötet hast, hast du ihr auch weiß Gott ein Motiv dafür gegeben.« Marcianus hörte mit dem Kratzen auf und bezwang seine Wut, da er wusste, dass jedes weitere Beschimpfen seines Assistenten kontraproduktiv wäre. Stattdessen beugte er sich zu Simon hinüber. »Ich muss dir nicht sagen, dass es eine unbeschreibliche Katastrophe wäre, wenn sie den steinernen Schlüssel vor uns finden würde.«
Marcianus gab Simon einen Moment Zeit, damit dieser die Bedeutung des Gesagten aufnehmen konnte, dann blickte er wieder auf die Tafel mit den Abfahrtszeiten. Der Schnellzug Richtung Norden kam in fünf Minuten. Marcianus überlegte, wie viel Zeit er für den kurzen Marsch zum Bahnsteig benötigen würde; danach schüttete er den Rest seines Drinks hinunter und stand auf.
»Ich werde den Araber für den Job hinzunehmen«, sagte er kurzangebunden. »Ich wollte ihn eigentlich nicht wieder dabeihaben, aber eines ist er mit Sicherheit: erfolgreich bei seiner Arbeit.«
Simon wollte protestieren. Es war sein Fehler, und er sollte auch derjenige sein, der ihn wieder ausbügelte.
»Aber ihn noch mal zu nehmen … ist das klug?«
Marcianus’ Verärgerung kam von Neuem hoch. »Du hast gesagt, du wolltest mir das Mädchen liefern, korrekt?«
»Natürlich.«
»Dann machst du das, indem du für mich ein Treffen mit dem Araber arrangierst.«
Simon seufzte und nickte dann widerwillig. Sein Gesicht verriet jedoch weiterhin sein Unbehagen.
»Keine Sorge«, fügte Marcianus hinzu, als er sich bereits zur Tür begab. »Ich werde ihm nicht mehr mitteilen, als er wissen muss – nur so viel, damit er Emily Wess finden und uns von dieser Nervensäge erlösen kann, bevor sie zu einem ernsten Problem wird.«