Kapitel 64

FBI-Außenstelle, Chicago

Laura Marsh klopfte flüchtig an die Bürotür von Special Agent Ted Gallows, als sie auf die Türschwelle trat. Gallows sah vom Bildschirm seines Laptops hoch.

»Special Agent Marsh, was kann ich für Sie tun?« Er bedeutete ihr einzutreten.

Als sie der Aufforderung nachkam, bemerkte sie, dass auf den zwei Stühlen links von ihr Alan Mayfair und Brian Smith saßen. Sie zeigten den ernsten Gesichtsausdruck, der ihr bei den beiden vertraut war.

»Habe ich eine Sitzung der Sektionschefs gestört?«

»Nein, wir stecken nur informell die Köpfe zusammen«, antwortete Gallows. Sein Tonfall war gewohnt aggressiv, doch er blieb höflich. »Schließen Sie sich uns an.«

Er zeigte auf ein kleines Sofa an der Wand gegenüber seinen beiden Kollegen, und Laura setzte sich rasch. Sie blieb zunächst stumm und wartete ab, doch als keiner der anderen etwas sagte, beschloss sie, sogleich das Thema anzusprechen, das ihr nicht mehr aus dem Kopf ging.

»Wir übersehen da etwas.«

»Unsere Arbeit ist in diesem Stadium großteils nur ein Stochern im Dunkeln«, entgegnete Gallows. »Aber wir machen Fortschritte. Schritt für Schritt.«

»Darum geht es nicht. Es geht um die mangelnde Übereinstimmung dessen, was wir bislang wissen. Die beunruhigt mich.«

»Mangelnde Übereinstimmung?« Smith sah sie mit einer angehobenen Augenbraue an. Sein Blick war forsch, und obgleich Laura sich angesichts seines Augenausdrucks unbehaglich fühlte, ließ sie sich doch nicht bremsen.

»Kommt es Ihnen nicht komisch vor, dass eine Gruppe, die ihren Sitz anscheinend in Amerika hat und aus Amerikanern besteht, die sich der Spiritualität verschrieben haben, uns Drohungen durch anti-amerikanische Terroristen im Nahen Osten zukommen lässt? Oder dass die Kontakte der Mitglieder untereinander über europäische Handys hergestellt werden?«

»Klar, das ist komisch«, erwiderte Smith. »Aber das untermauert auf ziemlich erdrückende Weise die Tatsache, dass diese Kirche der Wahrheit in der Befreiung mit einer Terroristenzelle im Nahen Osten in Verbindung steht.«

Marsh zappelte auf ihrem Platz herum. Ihre Schläfen pochten. »Dann ist da noch die ganze Art des Anschlags. Wir gehen von etwas Ähnlichem aus wie die üblichen Operationen der meisten Zellen im Nahen Osten. Aber denken wir mal kurz nach: Was wissen wir über die? Ob es nun einzelne Bombenleger, Kamikaze-Piloten oder extravagante Attentatspläne sind – diese Terrorakte sollen vor allem viel Leid anrichten. Nicht nur den Tod, sondern Qualen und Schmerzen.«

»Das ist seit jeher das bevorzugte Ziel extremistischer Angriffe. Das nennt man die Taktik des Terrors.«

»Aber, Special Agent Mayfair, warum zum Teufel zielt eine Gruppe, die sich der ›Freiheit des Geistes‹ und der Befreiung vom Leid verschrieben hat, ausgerechnet darauf ab, Leid allerschlimmsten Ausmaßes zu verursachen?«

Ted Gallows ließ sich Marshs Worte durch den Kopf gehen. »Laura, Sie überbewerten die theologische Seite einer terroristischen Situation.«

»Wie bitte?«

»Zu versuchen, ihre Motivation voll und ganz zu verstehen, ist durchaus berechtigt, aber in diesem Augenblick sieht die Realität so aus, dass wir nur ein sehr kleines Zeitfenster haben, um handeln zu können. Wir müssen die verantwortlichen Personen aufspüren und festlegen, welche Szenarien für den Anschlag am wahrscheinlichsten sind. Wir haben nur noch einen Tag bis zur Parade.«

»Sie«, warf Special Agent Smith ein, und seine Augen bohrten sich nun direkt in die von Marsh, »müssen an der Aufgabe dranbleiben, und in diesem Moment liegt die Priorität auf der Logistik von Patrouillen, der Überwachung und der Beschaffung jener Geräte, mit denen die Attentatspläne durchgeführt werden sollen – was für Objekte das auch immer sein mögen.«

Marsh verstummte. Die drei Sektionschefs waren wie festgenagelt in ihrer Sichtweise der Dinge. Als Mayfair und Smith sich erhoben, um zu gehen, nickte sie den beiden halb anerkennend, halb zustimmend kurz zu.

Als die zwei verschwunden waren, wandte sie ihren Blick wieder Gallows zu, der immer noch hinter seinem Schreibtisch saß.

»Wir brauchen noch einen Fachmann«, sagte sie schließlich. »Jemanden, der weiß, wie man derartigen Gruppen gedanklich ein paar Schritte vorausbleibt. Wir haben hier gute Köpfe und viele Leute, aber wir brauchen jemanden, der Experte darin ist, terroristische Bewegungen vorherzusehen, vor allem bei einer lückenhaften Informationslage.«

»Da widerspreche ich Ihnen nicht«, murmelte Gallows. »Tatsächlich habe ich bereits das Gleiche gedacht.«

»In diesem Fall, glaube ich, wissen wir beide, wer der richtige Mann für diese Aufgabe ist.« Marsh sah ihn vielsagend an. Einen Augenblick später hoben sich Gallows’ Augenbrauen, als ihm klar wurde, wen sie meinte.

»Sie wollen Chris Taylor? Aber der Mann ist in London.«

»Erzählen Sie mir nicht, dass das FBI unter diesen Umständen nicht bereit wäre, ihm die Heimreise zu spendieren.«

Gallows sah ihr in die Augen. »Und Sie sind sicher, dass Sie ihn nur aus rein beruflichen Gründen anfordern, Special Agent Marsh?«

Laura musste an sich halten, um sich nicht zu krümmen und zu winden. Special Agent Chris Taylor hatte die Außenstelle in Chicago wegen seiner Versetzung an die Botschaft verlassen, kurz nachdem Laura dort angefangen hatte. Wann immer sie im selben Raum gewesen waren, hatte der leise Hauch einer Liebesaffäre in der Luft gelegen; aber jede Möglichkeit, die Sache zu vertiefen, war durch seinen Weggang unterbunden worden. Sie war überrascht, dass Gallows von ihrer wechselseitigen Zuneigung wusste.

»Sie wissen so gut wie ich, dass Taylor der Richtige für die Aufgabe ist.« Das war alles, was sie zunächst antwortete. Ihren romantischen Erinnerungen konnte sie später nachhängen, und sie hegte bestimmt nicht die Absicht, mit Ted Gallows ihr Privatleben zu bereden. »Chris wurde nach London geschickt, weil er präzise dem Profil entsprach, das dort gefordert war: wegen seiner einzigartigen Fähigkeit, terroristische Aktivitäten anhand nur bruchstückhaft vorliegender Informationen vorherzusagen. Seine Kompetenz ist unvergleichlich, und er besitzt die Fähigkeit, aus unserem allgemeinen Datenmaterial etwas Konkretes herauszuarbeiten. Fällt Ihnen ein besserer Kandidat ein?«

Gallows hielt Marshs Blick einen langen Moment stand, bevor er zustimmend nickte. »Nein, Sie haben recht. Wir sollten ihn hinzuziehen.« Er erhob sich von seinem Schreibtischstuhl. »Dawson wird den Notfall-Transfer bestimmt bewilligen, und wir können seinen Flug rasch in die Wege leiten. Ich lasse von einem meiner Männer seinen augenblicklichen Aufenthaltsort herausfinden und schicke ihm sofort eine Transportgelegenheit.«

»Danke, Ted«, antwortete Laura und stand ebenfalls auf. »In der Zwischenzeit werde ich Ihren Rat befolgen und mich wieder auf die erste Priorität konzentrieren. Aber ich werde einen Junior-Agenten mit einer tiefer gehenden Recherche beauftragen, was diese seltsamen Verbindungen bedeuten könnten. Ich kann den Gedanken nicht abschütteln, dass hier mehr im Gange ist, und einige gründliche Hintergrundrecherchen können Chris nur helfen, wenn er hier eintrifft.«

Sie hatte einen Agenten vor Ort im Kopf – einen mit der Gabe, die Art von Verbindungen zu finden, die ihrem Gefühl nach knapp außerhalb ihres Sichtfeldes verborgen sein mussten.

Der verborgene Schlüssel
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