Kapitel 92

Koptisches Museum, Kairo

»Besorge ihr ein Blatt Papier und einen Stift. Achte darauf, dass die Seile fest sitzen … Kümmere dich nicht um die Fragmente … Das im Telefon gespeicherte Foto ist zu klein, um damit arbeiten zu können, wir müssen auf sie zurückgreifen … Sei bereit zu tun, was nötig ist …«

Emily erlangte langsam das Bewusstsein wieder, die Stimmen der Männer im Raum schwirrten ihr durch den Kopf, noch ehe sie wieder klar sehen konnte. Die Geräusche klangen zuerst nach Tumult und Aktivität. Aber als sie sich zu bewegen begann und sich auf ihrem Stuhl aufzurichten versuchte, wurden sie ruhiger und verstummten dann abwartend.

Ihr Stuhl. Emily wurde bewusst, dass sie saß und sich in einem seltsamen, unangenehmen Winkel nach vorne lehnte. Sie versuchte, sich gerade hinzusetzen, stellte aber fest, dass sie sich nicht rühren konnte. Ihre Arme, die an den Ellbogen in starrem rechtem Winkel gebogen waren, blieben an den Seiten ihres Körpers. Ihre Beine gehorchten ihr nicht.

»Bitte, bemühen Sie sich nicht.«

Es war die Stimme von Bell. Emily blinzelte mehrmals, aber die Gestalt vor ihr blieb verschwommen.

»Sie werden feststellen, dass Sie recht sicher festgebunden sind«, fuhr er in seltsam ruhigem Tonfall fort. »Wir können keine weiteren Ihrer … Possen gebrauchen.« Emily zerrte an ihren Armen. Nun spürte sie die Schnüre, mit denen ihre Handgelenke und Ellbogen an den hölzernen Armlehnen des Stuhls festgebunden waren. Ihre Beine waren zwei Mal, an den Knöcheln und knapp unterhalb der Knie, gefesselt worden.

»Wo ist … Michael?« Die Worte kamen langsam und undeutlich. Der Schlag, der sie umgehauen hatte, war kräftig gewesen.

»Ihr Mann ist nicht weit weg.« Bell legte ihr plötzlich seine Hände an den Kopf und drehte ihn, sodass sie zu einer Stelle auf der anderen Seite des Tischs blickte. Dort sah sie Michael, auf ähnliche Weise wie sie gefesselt. Aber er war auch voller Blut, sein Gesicht war geschwollen und verzerrt.

Emilys Wut überlagerte rasch die Schmerzen und ließ ihre Sinne wieder hellwach werden.

»Was zum Teufel haben Sie mit ihm gemacht?«

»Nur das, was nötig war«, antwortete Bell ruhig, der nun von ihr wegging. Ihr Blick ruhte weiter auf Michaels Gesicht. Trotz der Verletzungen konnte sie sehen, dass sein Gesichtsausdruck Besorgnis zeigte – nicht wegen ihm selbst, sondern wegen ihr.

Bell tauchte erneut in Emilys Gesichtsfeld auf. Er legte ein leeres Blatt Papier auf den Tisch und direkt daneben den Codex, der das Evangelium der Wahrheit enthielt.

»Was ich vermutet hatte, als ich sah, wie Sie sich mit solcher Genauigkeit an die Karte erinnerten und wie Sie später jedes Detail Ihrer Umgebung in der Höhle überprüften, hat Ihr Mann – etwas widerwillig – bestätigt.« Bell stand über die Materialien gebeugt, die er vor sie hingelegt hatte, und starrte auf sie hinunter. »Sie haben ein gutes Gedächtnis. Ein fast perfektes Gedächtnis, um die Wahrheit zu sagen.«

Emily antwortete nicht. Sie hielt den Blick einfach auf Michael gerichtet. Seine Augen waren von Blut und Schweiß verfärbt. Was hatten sie getan, um ihm diese Information zu entreißen?

»Offenbar ist Ihr Gedächtnis gut genug, um etwas so Komplexes wie die Oberfläche des steinernen Schlüssels im Kopf zu behalten«, fuhr Bell fort. »Es hat sie hierher gebracht, im vollen Wissen um unsere Aktionen. Aktionen, die Sie unterbrochen haben.«

Plötzlich machte er einen Schritt nach vorne und zog ein Messer, das er sich hinten am Rücken eingesteckt hatte. Das Messer von Chris, bemerkte Emily. Das Messer, das Michael aus dem Wagen mitgenommen hatte.

Als die Klinge auf sie zeigte und Bell noch einen Schritt näher kam, verspannte sie sich. Alles, was sie über den Mann wusste, schoss ihr unversehens durch den Kopf. Er ist skrupellos. Er hat auf Chris geschossen. Er hat uns zu töten versucht. Er hat Andrew getötet. In Sekundenschnelle wurde ihr klar, dass Arthur Bell sie hier töten würde, ohne deswegen schlaflose Nächte zu haben. Die Klinge des Messers, mit der er auf ihren Körper zielte, konnte das Letzte sein, was sie jemals spüren würde.

Seltsamerweise half ihr dieser Gedanke, ruhig zu bleiben. Sie konnte den Mann nicht kontrollieren. Sie konnte nur akzeptieren, was kommen würde, und handeln – falls und wenn sie dazu in der Lage wäre.

Das Messer wurde plötzlich kräftig nach vorne gestoßen, ritzte aber nicht ihre Haut. Mit überraschender Gewandtheit zog Bell es durch die beiden Seile, die ihren rechten Arm festgehalten hatten.

»Sie haben meinen steinernen Schlüssel zerstört«, sagte er; das Messer hielt er weiterhin so, dass er rasch zustoßen konnte. »Aber zum Glück sind Sie in der Lage, uns zu helfen, das ungeschehen zu machen, was Sie getan haben.« Er sprach die nächsten Worte langsamer, um die Drohung zu betonen, die sie übermitteln sollten. »Ich erwarte von Ihnen, dass Sie uns helfen.« Bell sah ihr in die Augen und stellte sich wieder gerade hin. Er klopfte sein Jackett ab, seine Stimme fand zu einem ruhigeren Ton zurück. »Ich erwarte allerdings nicht, dass Sie gewillt sind, das zu tun. Sie sind verstört, immer noch verbittert wegen ihres Verwandten. Sie sind … unmotiviert. Doch das können wir ändern.«

Er nickte einem der größeren Männer aus seiner Gruppe zu, und dieser ging zu Michael und blieb abwartend neben ihm stehen.

Langsam wandte Bell seinen Blick erneut Emilys Gesicht zu. Die Drohung musste nicht laut ausgesprochen werden. Die Situation sprach für sich selbst. Aktion und Reaktion waren klar.

Sie zögerte, versuchte, ihre Optionen abzuschätzen. Aber Bells Ungeduld brach sich Bahn. Mit einem Nicken seines Kopfes bestätigte der Mann das Signal und zog einen Hammer aus einer kleinen Werkzeugkiste neben Michaels Stuhl. Selbst von ihrem Blickwinkel aus konnte Emily das Leuchten in den Augen des Kerls sehen – ein Leuchten, das eine Quelle hatte. Vergnügen. Plötzlich wurde ihr klar: Was immer als Nächstes kommen mochte, ihm würde es gefallen. Und diese Erkenntnis erfüllte sie erneut mit Entsetzen.

Er hielt den Hammer einen Augenblick ruhig in der Hand – mehr um sicherzustellen, dass Emily ihn auch sah, als um genauer zu zielen –, dann hob der Mann seinen kräftigen Arm und schlug den Stahlkopf direkt auf den Rücken von Michaels linker Hand. Das Brüllen ihres gepeinigten Mannes hallte durch den Raum.

Bell beugte sich hinunter und flüsterte zwischen Michaels Schreien Emily ins Ohr: »Ich werde tun, was ich tun muss.«

Emily sah schockiert zu, wie Michael sich wand, während er versuchte, die Beherrschung wiederzuerlangen. Der Mann neben ihm hatte den Hammer bereits beiseite gelegt und packte nun zwei Finger an Michaels Hand. Er bog sie nach hinten um, bis sie unter seinem Druck nachgaben und mit einem Knacken flach auf dem Handrücken lagen. Das Geräusch der ausgerenkten Gelenke und splitternden Knochen wurde von den neuerlichen Schmerzensschreien Michaels übertönt.

»Das reicht!«, heulte Emily auf, ihr Gesicht lief vor Wut und Entsetzen rot an. »Das reicht!« Sie hob die freie Hand, um damit ihre Kapitulation anzudeuten.

Als hätte er die Bewegung vorausgeahnt, stellte sich Bell neben sie und legte ihr einen Stift in die Hand. Michaels Folterknecht trat zurück in die Dunkelheit.

»Ich bin überaus froh, dass wir zu einer Übereinkunft kommen konnten«, sagte Bell. Er schob ihren Stuhl näher an die Kante der Vitrine, die zum Arbeitstisch umfunktioniert worden war. Der Codex und das Papier lagen bereit.

»Nun hätte ich gerne, dass Sie bitte den Rest meiner Liste entschlüsseln.«

Der verborgene Schlüssel
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