Kapitel 125

Magnificent Mile, Chicago

Emily nahm ihre Position in der Nähe der Betonsäule wieder ein, erkannte jedoch, dass die Zeit beinahe abgelaufen war. Sie wartete, bis Marcianus von Neuem in sein Gebet versunken war. Seine Augäpfel rollten nach oben, als ob er in einem Zustand nahe der Ekstase war. Da stürmte sie erneut los. Sie packte mit einer Hand die Oberkante des Sockels und versuchte, sich nach oben zu ziehen, bevor Marcianus reagieren konnte. Doch der Mann bemerkte sie und versetzte ihr erneut einen üblen Schlag an den Kopf. Seine Überzeugung schien ihm Kraft zu verleihen, und er schickte sie nochmals zurück in die Menschenmenge.

Marcianus’ Brust füllte sich mit einem tiefen Atemzug, als er sich wieder der Rezitation zuwandte und zu den letzten Sätzen des Befreiungsgebets kam, die er herausbellte, damit auch alle sie hörten.

»Unser ist der Tag und nur unser ist dieser Augenblick:

Gebt Acht, welches Licht und welche Kraft die Welt zerteilen werden 

Nun wählt euren Tod, und wir wählen unsere Herrlichkeit!«

Genau in dem Augenblick, als ihm die letzten Worte über die Lippen kamen, tauchte ein Mann in schwarzen, am Saum purpurn abgesetzten Gewändern und mit einem großen goldenen Kreuz um den Hals neben Emily auf. Kardinal O’Dowd sah zu Marcianus hinauf, dann warf er Emily und Michael einen entschlossenen Blick zu.

»Sind Sie das, die da um Hilfe gerufen hat?«

»Das waren wir. Er ist der Anführer der Sekte. Sie haben eine Bombe.« Emily deutete auf Marcianus, aber in ihrem Kopf drehte sich noch alles, und sie hatte Mühe, Luft zu bekommen. Die Augen des Großen Anführers waren geschlossen, die Arme hatte er zum Himmel erhoben.

Der Kardinal schob die Ärmel des Talars zurück. Seine Arme darunter waren bedeckt mit kurzen grauen Härchen, aber durchtrainiert. Er blickte zu dem Mann hoch, den er, wie ihm klar war, stoppen musste, und bereitete sich mit mehreren tiefen Atemzügen darauf vor. Dann nahm er eine Angriffshaltung ein.

Bevor er jedoch hochspringen konnte, brach jemand durch die umstehende Menschenmenge und warf sich auf ihn, sodass sie gemeinsam zu Boden gingen. Eine schwere Samtrobe bedeckte den Körper des Angreifers und verbarg dessen Gesicht, doch als er von dem sich windenden Kardinal herunterkletterte, fiel ihm die Kapuze auf die Schultern herab, und die nur allzu bekannte Physiognomie des Mannes war nun für andere gut sichtbar. Gouverneur Aaron Wilson war rot im Gesicht, außer sich und bar jeder politischen Zurückhaltung, die normalerweise alle Politiker zur Schau trugen. Er war ein vor Wut kochender Mann.

Der Gouverneur holte mit dem Arm nach hinten aus, um dem Kardinal seitlich an den Kopf einen Schlag zu verpassen, beging jedoch den Fehler, dabei seine Körpermitte ungeschützt zu lassen. Kardinal O’Dowd war ebenso wie der Politiker nicht gewohnt, einen Nahkampf auszutragen, aber er erkannte eine Gelegenheit, wenn sie sich ihm bot. Er ballte die Hand zur Faust und rammte sie dem Gouverneur in den Bauch. Wilson wankte nach vorne, und seine Augen traten hervor, als ihm schlagartig die Luft aus dem Zwerchfell wich. Dann stieß der Kardinal dem Gouverneur das rechte Knie ins Gemächt und verpasste ihm gleichzeitig einen Aufwärtshaken an die linke Seite seines Schädels. Diese Kombination reichte aus. Gouverneur Wilsons Körper verkrampfte sich nur einen kurzen Moment, dann brach er über seinem Kontrahenten zusammen.

Kardinal O’Dowd rollte den Gouverneur von sich herunter und stand auf. Der Kampf hatte nur ein paar Sekunden gedauert, doch bemerkenswerter als das Verhalten des Gouverneurs war die Tatsache, dass die ganze Prügelei den Mann oben auf dem Betonsockel offenbar nicht von seinem Tun abgelenkt hatte. Marcianus hielt immer noch die Arme erhoben, die Augen zum Himmel gerichtet, und seine Lippen sprachen weiter das Gebet.

Der Kardinal richtete seine Gewänder, schaute kurz zu Emily und Michael und wandte sich dann wieder Marcianus zu.

»Ich werd dir zeigen, wie man mit Häretikern umgeht.«

Kardinal O’Dowd nahm den unteren Teil seines Talars in die Hand, ging drei große Schritte zurück und stürmte dann auf den Betonsockel zu. Er benutzte den abgerundeten Rand an der Basis als Stufe, warf sich mit aller Kraft nach oben und prallte gegen Marcianus. Er umschlang den erschrockenen Großen Anführer mit seinen purpurverzierten Armen, und die beiden Männer stürzten vom Sockel und krachten auf den Boden.

Marcianus drehte sich instinktiv im Fallen, verschätzte sich aber in der Entfernung. Er schlug mit dem Gesicht auf und keuchte, als ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Der Kardinal landete mit seinem vollen Gewicht auf ihm, und seine Ohren registrierten das Geräusch von brechenden Rippen. Der Prälat stieg ohne fremde Hilfe vom Körper seines Gegners herunter und drehte diesen um.

Marcianus war total verblüfft. Irgendwelche Störungen hätte es nicht geben dürfen. Das Gebet hatte absoluten Vorrang. Man hatte Vorkehrungen getroffen.

Er zwang sich zur Konzentration. Der Kardinal griff ihn an. Der Prälat war ein überraschend kräftiger Mann und würde nicht von ihm ablassen.

Marcianus’ Hand glitt zu seiner Hüfte. Aqmals Kabar steckte dort in seiner Scheide. Er klappte den schmalen Lederverschluss auf und nahm den Griff in die Faust. Ob der Angreifer ein Mann Gottes war oder nicht, der Kardinal würde sein Werk nicht gefährden.

Gouverneur Wilson spuckte aus, als er wieder zu Atem kam; sein Mund war voller Blut von den Schlägen des Kardinals. Seine Sicht war verschwommen, der Himmel über ihm drehte sich. Er lag auf dem Rücken. Der Geistliche hatte ihn zu Fall gebracht und war dann weitergegangen.

Er zwang seinen Verstand wieder in geordnete Bahnen und blinzelte so lange, bis seine Sicht klar war.

Und dann hörte er die Geräusche zu seiner Linken.

Er rollte sich auf die Seite und sah ein unmögliches Bild. Der Große Anführer lag auf dem Rücken, das Gesicht voller Blut, und neben ihm erhob sich gerade der Kardinal und machte sich bereit, erneut zuzuschlagen.

Das konnte er einfach nicht zulassen.

Kardinal O’Dowd drückte kräftig die Knie durch, stellte sich wieder aufrecht hin und blieb neben Marcianus’ Knöcheln stehen. Der Mann bewegte sich noch. Er musste gestoppt werden – endgültig. Der katholische Geistliche holte mit der Faust aus, beugte sich nach unten und wollte so viel Kraft, wie er konnte, in den Schlag legen, der Marcianus ins Gesicht treffen sollte.

Und genau da sah er ein Licht neben Marcianus blitzen und an dessen Schulter ein Muskelzucken. Der Verstand des Kardinals verarbeitete augenblicklich die Information. Ein Messer. Der Mann holte zum Gegenschlag aus.

Im selben Augenblick durchschnitt ein gutturaler Schrei hinter ihm die Luft. Selbst mit der Wut, die jetzt in der Stimme mitschwang, erkannte O’Dowd sie sofort. Der Gouverneur war zurück im Ring und fiel ihn von hinten an. Er würde zwischen den beiden Männern eingekeilt sein, von denen der eine bereits eine Klinge gegen seine Brust hob.

Nun übernahmen beim Kardinal die Instinkte das Kommando. Er duckte sich nach rechts weg, so als wollte er sich auf Marcianus stürzen. Doch dann warf er sich auf den Boden. Gleichzeitig krümmte er sich zusammen, zog die Knie an und rollte sich weg.

Gouverneur Wilson sah zwar, wie der Körper des Kardinals sich seitlich fortbewegte, aber es war zu spät für ihn, um seinen Angriff noch abzubrechen. Sein Körper stürzte nach vorn und dann nach unten – genau auf den Großen Anführer zu, dessen Messer nun direkt auf die Brust des Gouverneurs gerichtet war.

Der Gouverneur fiel in das Messer, seine Augen waren genauso weit aufgerissen wie die von Marcianus. Die Klinge hielt stand, als sein Körper auf sie traf; sie stieß tief in seine Brust hinein, rutschte an seinen Rippen ab und blieb mitten in seinem Herzen stecken. Für einen kurzen Augenblick stand die Zeit still, und keiner der Männer bewegte sich. Dann hustete Wilson, starrte Marcianus in die Augen, und einen Moment später wurde sein lebloser Körper schlaff.

Emily und Michael rannten zu ihnen hin. Michael hielt Marcianus an den Schultern fest, während Emily den toten Gouverneur von ihm herunterrollte. Die Menschenmasse hatte sich bei dem Kampf geteilt und einen Kreis um das Handgemenge gebildet. Wie aus dem Nichts tauchten Fernsehkameras auf und richteten sich auf das seltsame Geschehen aus, das – es war schier nicht zu glauben – einen amtierenden Gouverneur das Leben gekostet hatte.

Einen Augenblick später strömten Polizeibeamte in den Kreis, die auf denselben per Funk übermittelten Hilferuf reagierten, der schon Kardinal O’Dowd alarmiert hatte. Ein uniformierter Polizeibeamter ging auf Michael zu, der immer noch Marcianus niederhielt, und legte ihm eine kräftige Hand auf die Schulter.

»Sir, von jetzt ab können wir ihn übernehmen.«

Michael, dessen Augen sich immer noch in die von Marcianus bohrten, lockerte langsam seinen Griff, und dann stand er über dem gefallenen Mann.

In dem Augenblick begann Marcianus zu lachen. Zunächst leise, aber bald aus tiefster, voller Überzeugung. Er strahlte übers ganze Gesicht.

»Sie sind zu spät!«, rief er mit wahnsinniger Freude, während ihm das Blut aus dem Mund spritzte. »Es ist bereits vollbracht. Und jetzt kommt das große Licht!«

Er hob die Arme himmelwärts, seine Finger rahmten den Turm ein, von dem die Erlösung gleich herabströmen würde.

Der verborgene Schlüssel
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