Kapitel 56

Unterhalb der Felswand

Marcianus stieg wieder in seinen Kompaktwagen und griff zu einem kleinen Satellitentelefon, das neben der Lenkradsäule hing. Er hatte rund hundert Meter hinter dem SUV der Gruppe geparkt, und zwar hinter einem besonders steilen Sandwall, damit das Auto nicht gesehen wurde. Bei einem Ausflug auf den Kamm der Düne, wo er auf dem Bauch liegend durch sein Fernglas mit Hochleistungs-Zoom schaute, das er aus dem Fond mitgenommen hatte, konnte er beobachten, wie die drei Personen in dem dunklen Felsspalt verschwanden. Er war verblüfft darüber, dass sie sich anscheinend plötzlich in Luft aufgelöst hatten. Von seinem Beobachtungspunkt aus, der sich viel weiter unten befand, war kein Anzeichen für eine Höhle oder irgendetwas anderes zu entdecken. Die tiefer gelegene Höhle konnte er sehen, obwohl sie alles andere als auffällig war. Aber da oben – dort schienen sie einfach vom Fels verschluckt worden zu sein. Und nachdem sie weg waren – nichts. Nicht ein einziges Schimmern oder ein Schatten ließ auch nur auf den kleinsten Durchlass in der Felswand schließen.

Es war eine natürliche optische Täuschung der wunderbarsten Art.

Kein Wunder, dass der steinerne Schlüssel so viele Jahrhunderte lang unentdeckt geblieben ist, dachte er. Seine antiken Vorfahren hatten das Versteck klug gewählt.

Trotz der erdrückenden Hitze in der Wüste zitterte er am ganzen Körper vor Erwartung. Er war dicht dran, so dicht dran.

Er umfasste das Telefon fester, wählte und hielt es sich ans Ohr. Während der Fahrt durch die Wüste hatte es sich auf dem Armaturenbrett befunden, und das von der Sonne aufgeheizte Gehäuse brannte ihm auf der Haut. Er nahm die kleine Unannehmlichkeit hin, als wäre sie eine Herausforderung von irgendeiner unsichtbaren Macht. So vieles könnte ihn jetzt von seinem Kurs abzubringen versuchen, aber dem würde er keinesfalls nachgeben.

»Die Dinge sind besser gelaufen als geplant.« Marcianus begann zu sprechen, sobald die Verbindung hergestellt war. »Sie haben mich direkt zu der Stelle geführt. Es ist die Gegend, die wir vermutet hatten. Ihre ersten Etappen entsprachen den Abschnitten der Karte, die in unserem Besitz ist. Ihre anschließenden Bewegungen, da hege ich keinerlei Zweifel, haben gewiss den restlichen Teilstücken entsprochen.«

»Dann bist du also bereit, dir den Stein zu verschaffen?«

»Alles im Plan. Ich gebe ihnen ein paar Minuten allein im Inneren und lasse ihnen die Möglichkeit, die Schwerstarbeit für mich zu erledigen, ihn zu orten und herauszuholen. Und dann nehme ich mir, was uns gehört.« Er machte eine Pause. »Wie steht’s mit den Vorbereitungen vor Ort?«

»Alles in Ordnung«, gab die Stimme zurück. »Die Täuschung funktioniert. Ich habe gerade mit unserem Kontakt beim FBI gesprochen. Ihre Aufmerksamkeit bleibt dort, wo wir sie haben wollen. Die Befragung unseres jungen Bruders Pike ist zwar beinahe schiefgegangen, hat dann aber doch zu den von uns intendierten Ergebnissen geführt. Er hat ihnen genau die Einzelheiten gegeben, die er sollte.«

Marcianus schnaufte zufrieden durch. »Hervorragend. Sobald ich den Stein habe, kümmern wir uns um die Texte. Du weißt, was als Nächstes kommt.«

Er schaltete mit einem Klick das Telefon aus und steckte es in seine Tasche, dann wandte er seine volle Aufmerksamkeit wieder der vor ihm liegenden Aufgabe zu. Die Beschattung von Wess und ihren Begleitern war nicht schwierig gewesen. Sie schienen nicht den leisesten Verdacht zu hegen, dass ihnen jemand folgte, nur der FBI-Agent blickte unablässig über die Schulter, als halte er nach Verfolgern Ausschau. Aber der Mann schien lediglich von einer allgemeinen Angst dazu getrieben. Er suchte die Umgebung ab, richtete aber sein Augenmerk nie besonders auffällig auf die Stelle, wo sich Marcianus sorgsam versteckt hielt.

Marcianus hatte die Verfolgung nur so lange unterbrochen, wie nötig gewesen war, um die Leiche des einstigen arabischen Terroristen an der Beifahrerseite hinauszuwerfen. Da durch Mustafa Aqmals Adern kein Leben mehr floss, hätte er aufgrund der Hitze im Wageninnenraum rasch zu stinken angefangen, und Marcianus verspürte nicht den Wunsch, mit seiner Nase den Beweis für die Verwesung aufzunehmen. Es war schon schlimm genug, dass er den Mann hatte töten müssen. Marcianus hasste es, sich mit dem realen Vorgang des Tötens die Hände schmutzig zu machen. Dadurch kam er der stofflichen Schwäche des diesseitigen Lebens viel zu nahe, und so hatte er sich geschworen, sich niemals die Hände mit dem Akt des Tötens zu verunreinigen, der sich so leicht an andere delegieren ließ. Heute war er gezwungen gewesen, diesen Schwur zu brechen, denn er hatte keine andere Wahl gehabt; und es würde, bevor der Tag zu Ende war, nicht das letzte Mal sein, dass er jemandem das Leben nahm. Zumindest würde die Wüste eine Möglichkeit bieten, Wess und ihren Kameraden das Licht auszuknipsen, ohne dies mit eigenen Händen tun zu müssen.

Marcianus öffnete die Wagentür und trat hinaus in die Sonne. Als er die ersten Meter zu dem Felshang und dem Beginn der Klettertour zurücklegte, die ihn zum Eingang der Höhle bringen würde, überprüfte er, ob in der Kammer seiner Helwan Munition steckte – nur für den Fall, dass er ein zweites Mal keine andere Wahl haben würde. In der linken Tasche steckte bereits das Gerät, das sicherstellen würde, dass nur er allein die Höhle lebend wieder verließ.

Der verborgene Schlüssel
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