Kapitel 98
Koptisches Museum, Kairo
»Oh Welt! Sieh nun, wir wollen euch unsere Geheimnisse offenbaren! Denn ihr seid unsere Brüder, die nun alles wissen sollen.
Denn wir sind das Wissen und die Unwissenheit.
Wir sind die Scham und die Freizügigkeit.
Wir sind schamlos und beschämt.
Wir sind die Stärke und die Furcht –
Wir sind der Krieg und der Friede: Gebt Acht!
Wir sind die Verdammten und die Großen!«
Marcianus konnte nicht anders, er musste den alten Text laut aufsagen, so wie er Seite um Seite unter den sanften und begabten Händen des Chemikers sichtbar wurde. Wenn eine Seite enthüllt war, reichte er sie dem Übersetzer, der die koptischen Zeilen so schnell ins Englische übertrug, wie es seine Kenntnisse zuließen. Worte, die Jahrhunderte, ja fast zweitausend Jahre lang verborgen gewesen waren, kunstvoll vor Blicken versteckt auf Blättern, die inzwischen zu den berühmtesten in der Gelehrtenwelt zählten – plötzlich erhielten sie eine Gestalt. Auf einmal war es möglich, sie laut auszusprechen.
Seine Zunge folgte wie von selbst seinen Augen, die über die Sätze, die Offenbarungen, seines am stärksten ersehnten Gebets flogen.
»Die Unwissenheit brachte Furcht und Schrecken,
Und die Furcht wurde zu einem dichten Nebel, sodass niemand mehr sehen konnte.
Aus diesem Grunde kam die Täuschung zur Macht.
Doch die Wahrheit wird ein großartiges neues Licht hervorbringen,
Und wie der Nebel den Himmel füllt, wird unser Feuer die Luft versengen
Und die Lungen, die Augen und das Herz –
Jeder Atemzug der Tod und die Pforte zum Leben!«
Noch immer an den Stuhl gefesselt, beobachtete Emily, wie Marcianus über seinen Fund frohlockte. Ihre Reaktion darauf war eine Mischung widerstreitender Gefühle, die schwer zu bestimmen waren. Da war das Entsetzen allein schon beim Anblick des Mannes, der für Mord, Verfolgung, Angst und Tod verantwortlich war. Dann jedes Mal die Furcht, wenn der Chemiker, den die Fragilität der alten Seiten des Codex immer weniger zu kümmern schien, eine von ihnen aus dem antiken Ledereinband riss, sobald das Blatt der chemischen Behandlung unterzogen worden war. Aber dann war da auch Erstaunen über die Existenz eines so uralten Geheimnisses, das nun enthüllt wurde. Ehrfurcht vor der Realität, dass da neue Wörter auftauchten und sich ein neues Stück Geschichte vor ihren Augen entfaltete.
Der Übersetzer nahm wieder eine Seite von seinem Block und gab sie dem Großen Anführer: das letzte Blatt, übertragen und übersetzt. Marcianus nahm es entgegen wie ein begieriges Kind.
»So wird die Wahrheit bekannt werden!
Wenn jemand das Wissen hat, empfängt er das, was ihm gehört, und nimmt es an sich.
Doch wer unwissend ist, dem fehlt etwas, und er wird unter dem großen Mangel leiden,
Denn ihm fehlt das, was ihn vollkommen macht.
Unser Licht wird brennen wie Feuer und über den Atem weitergetragen werden!
Jedes Inhalieren ein Keuchen befreiender Trennung.
Im dämmrigen Lichtschein der Taschenlampen der Gruppe und der sanften Hintergrundbeleuchtung der Ausstellungsvitrinen konnte Emily sich nicht sicher sein, aber sie glaubte, sie hätte Marcianus’ Augen beim Vorlesen feucht schimmern gesehen. Sein Erstaunen war schier grenzenlos, seine Freude anscheinend ungetrübt.