Kapitel 63
Die Höhle
Fast zehn Minuten lang arbeitete Emily mit konzentrierter Hingabe. Die Grundform der Gravur auf dem steinernen Schlüssel war eine einfache runde Scheibe mit konzentrischen Kreisen, die von Speichen durchschnitten waren und in deren so entstandenen Segmenten jeweils ein koptischer Buchstabe stand. Ihr war klar, dass sie die Abfolge dieser Buchstaben richtig hinbekommen musste.
Ein fast fotografisches Gedächtnis ist nicht dasselbe wie ein fotografisches Gedächtnis. Beim wirklich fotografischen Erinnerungsvermögen ist es, als habe man Zugang zu einem echten Foto: Erinnerungen werden als Bilder gespeichert, die man im Geiste mit derselben Klarheit und Detailgenauigkeit vor sich sieht wie eine reale Fotografie. Emilys Form des fast fotografischen Gedächtnisses funktionierte ein wenig anders. Erinnerungen wurden als Bilder wachgerufen, aber die einzelnen Teile waren nicht immer sogleich in aller Klarheit verfügbar, wenn sie die Details akribisch studierte. »Es ist, als ob man ein Foto betrachtet, das ein wenig verschwommen ist«, hatte sie das Phänomen einmal Michael erklärt. Wenn sie sich sorgfältig konzentrierte und sich anstrengte, sich zu erinnern, klärte sich der Nebel für gewöhnlich auf, und die Einzelheiten fielen ihr ein. Aber manchmal war eben nicht immer.
Genau aus diesem Grund arbeitete Emily mit so bemerkenswerter Zielstrebigkeit auf dem Höhlenboden. Die drei Ringe mit ihren neunundneunzig scheinbar willkürlich verteilten koptischen Buchstaben waren genau die Art von Details, die in ihrem Gedächtnis allzu leicht verschwammen. Und sie war entschlossen, das nicht geschehen zu lassen, bevor sie eine genaue Kopie von der Oberfläche des Steins angefertigt hatte.
Um ihre Aufgabe durchzuführen, brauchte sie kaum mehr Zeit als Michael für die Versorgung von Chris’ Verletzung, und als sie den letzten Buchstaben in den zugehörigen Sektor auf dem Blatt geschrieben hatte, war er von seiner Rolle als Aushilfsschwester dazu übergegangen, einen Weg aus der Höhle zu suchen. Chris war noch nicht ganz in der Lage, sich dieser körperlich anstrengenden Aufgabe zu widmen, und humpelte zu Emily hinüber.
»Also, was war denn so wichtig, dass du dich nicht um meine Wunden kümmern konntest?«, fragte er. Seine Augen waren immer noch bemüht, sich an die Sichtverhältnisse zu gewöhnen.
Da ihre intensive Arbeit abgeschlossen war, erlaubte Emily sich ein erleichtertes Lächeln als Antwort auf seine erwartete Stichelei. »Nur das hier. Und ich denke, du dürftest mir zustimmen – es hat sich gelohnt.«
Sie hielt das Notizheft hoch und richtete den Strahl ihrer Lampe darauf.
»Ist das …?« Chris blickte ungläubig darauf.
»Ja. Der steinerne Schlüssel.«
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst Vertrauen in sie haben«, betonte Michael, während er Emily vom anderen Ende der Kammer einen liebevollen Blick zuwarf.
»Das ist ja irre.«
»Ich hoffe nur, ich habe es richtig hingekriegt«, sagte Emily. »So eine lange Buchstabensequenz ohne jedes erkennbare Muster. Da kommt sogar mein Gedächtnis ins Schleudern.«
»Wofür sind sie?«
»Ich bin nicht sicher, Chris.« Emily reichte ihm das Blatt. »Ich habe allerdings eine Theorie.«
»Irgendwie hab ich mir das schon gedacht.« Seine Bemerkung war aufrichtig gemeint.
»Ich bin nicht sicher, ob ich so schnell von selbst drauf gekommen wäre, aber unsere Unterhaltung mit Arthur Bell war, sagen wir mal, eine Offenbarung.«
»Ich kann nicht behaupten, dass ich mich noch an jedes Wort unserer … Unterhaltung erinnere.« Chris deutete auf seinen verletzten Kopf. »Gib mir eine kurze Auffrischung.«
»Er war nicht sonderlich gesprächig«, antwortete Emily. »Doch zweimal erwähnte er etwas, das keinen direkten Bezug zu einem kleinen, menschengemachten Stein hat, der mitten in der Wüste gefunden wurde. Ich spreche von Texten. Das erste Mal erwähnte er Dokumente, als er versuchte, sein Recht auf den Besitz des steinernen Schlüssels zu bekräftigen, und sagte, dieser Gegenstand wäre nicht dafür geschaffen worden, in einer Höhle oder einem Museum zu liegen – ›genauso wenig wie unsere heiligsten Texte‹. Später wurden seine Worte sogar noch sonderbarer. Er sprach von der ›Befreiung, die unsere heiligsten Dokumente bringen werden‹. Ich halte es nicht für einen Zufall, dass er zweimal von der Erwähnung des steinernen Schlüssels dazu überging, Bemerkungen über heilige Dokumente zu machen.«
»Der Stein könnte ebenfalls eine Karte darstellen«, spekulierte Chris, »die irgendwelche Hinweise auf ein anderes Dokument enthält. Oder vielleicht einen antiken Schlüssel zu einer Schatzkammer, in der stapelweise Texte aufbewahrt werden?«
»Könnte sein, aber ich glaube es nicht. Angesichts der Zeit, die ich für das Kopieren gebraucht habe, denke ich, der steinerne Schlüssel ist als ein Hilfsmittel gedacht. Er deutet nicht auf Texte, er hilft vielmehr seinem Benutzer, diese zu lesen. Er enthüllt deren Bedeutung.«
Als Emily von Enthüllung sprach, machte es in Chris’ Kopf klick. »Es könnte ein Verschlüsselungscode sein.« Er blickte von dem Blatt hoch. »Tatsächlich würde das angesichts seiner Konstruktionsweise sehr viel Sinn ergeben.« Seine Aufmerksamkeit war nun neu geweckt. Chris hatte beim FBI schon mit einer Vielzahl von Chiffriertechniken gearbeitet.
»Er hat drei Ringe mit Buchstaben«, bemerkte er laut und sah auf das Bild, »was bedeutet, es könnte sich um einen zweistufigen Vertauschungscode handeln, bei dem der erste Ring als codierter Text, der zweite als Zwischenschritt für eine Übersetzung und der dritte als letzter Schritt dient, um den Quelltext zu offenbaren. Oder um eine säulenförmige zweistufige Vertauschungschiffre.«
Emilys Augen leuchteten, während er sprach. »Genau, was ich auch dachte. Wenn auch vielleicht nicht in diesen Fachbegriffen.«
»Es wäre ein recht einfacher Code«, erklärte Chris. »Aber zum Teufel, er ist auf die Seite eines Steins in einer uralten ägyptischen Höhle geritzt, und Michael schätzt, dass er über eintausendfünfhundert Jahre alt ist. Ich vermute, ich sollte hier nicht ein asymmetrisches Kryptografiesystem erwarten. Aber man müsste trotzdem wissen, welcher Text damit entschlüsselt werden soll.«
»Ich habe auch dazu eine Theorie.« Emily, die zuvor hauptsächlich auf ihren Zehen gehockt hatte, setzte ihre Fersen auf den Boden, da ihr die Beine vom Hinkauern wehtaten. »Bell erwähnte, der steinerne Schlüssel würde die Bedeutung der ›heiligsten Texte‹ seiner Gruppe offenbaren, ihrer ›heiligsten Dokumente‹. Jetzt sagt mir – was wissen wir über diesen Mann?«
»Er ist ein mieser Schütze«, erwiderte Chris sarkastisch, obgleich das eine Tatsache war, für die er sein Leben lang dankbar sein würde.
»Er ist ein Gnostiker«, antwortete Michael von der anderen Seite der Höhle aus, wo er nach wie vor mit den Händen die Wand abtastete. »Oder zumindest höchst interessiert an gnostischen Dokumenten. Er hat monatelang versucht, an unsere im Britischen Museum heranzukommen.«
»Richtig. Jemand, der den antiken Gnostizismus ernst nimmt – ihn als etwas versteht, das heute noch lebendig ist«, erklärte Emily. »Und … ein Mann, der eindeutig daran interessiert ist, nicht Kopien, sondern die Originaltexte des antiken Gnostizismus in die Finger zu kriegen.« Sie beugte sich zu Chris vor. »Nun versetz dich mal in einen Mann hinein, der irgendeine neuerschaffene Form dieser antiken Kulturen zu leben versucht. Welche Texte würdest du heute deine ›heiligsten‹ nennen?«
Chris’ Gedanken rasten zurück. Sie eilten zunächst durch die kurze Geschichte des Gnostizismus, die ihm Michael im Flugzeug erzählt hatte, dann sprangen sie zu den Gesprächen über das Vermächtnis dieser Geistesströmung und den jüngsten Entdeckungen, die er diesbezüglich auf ihrer Reise gemacht hatte. Und schließlich gelangten sie an den Ort, wo man die berühmteste Sammlung gnostischer Texte entdeckt hatte – an einen Ort, durch den sie erst vor ein paar Stunden gefahren waren.
»Nag Hammadi? Du willst sagen, Arthur Bell will sich deine Nag-Hammadi-Codizes schnappen?«
»Wie Michael schon sagte«, antwortete Emily, »der Fund von Nag Hammadi hat die Art, wie wir den antiken Gnostizismus sehen, von Grund auf verändert. Es war unser erster – und ist unser einziger – großer Fundus an authentischen gnostischen Dokumenten aus erster Hand. Offenbar glaubt dieser Mann, dass diese Codizes uns noch mehr zu sagen haben.«
Michaels aufgeregte Stimme unterbrach unvermittelt das förmlich greifbare Gefühl der Ehrfurcht, das ihre Spekulationen hervorgerufen hatten.
»Emily, Chris, kommt hier herüber!«, rief er. »Und schaltet die Taschenlampen aus. Beide.«
»Aus?«, fragte Chris nach.
»Aus. Und schaut mal dorthin.« Michael deutete auf einen fast unmerklich helleren Streifen, der sich die Wand hochzog. Als die Taschenlampen ausgingen, bestätigte sich seine Vermutung.
»Licht«, sagte er. »Es ist schwach, aber durch diesen Riss in der Wand scheint eindeutig Sonnenlicht. Ich denke, wir haben einen Weg nach draußen gefunden.«