Kapitel 19
Innenstadt von London
»Über die Gruppe, die jene Manuskripte aus meiner Museumsabteilung haben möchte, war nur schwer etwas in Erfahrung zu bringen.«
Die Geduld von Michael Torrance und Emily Wess wurde durch das langsame Fortkommen ihres Miettaxis etwas strapaziert. Der Mittagsverkehr im Zentrum Londons kam auf den Straßen, die man einst für Pferde und ein paar Kutschen angelegt hatte und die nun durch die modernen Transportmittel völlig überlastet wurden, fast nicht vom Fleck. Doch im Fond des Taxis war es still, und so konnten sie beide, ohne abgelenkt zu werden, über das Wenige nachdenken, was sie über die Sachlage wussten, die sich durch die Ermordung von Emilys Cousin ergeben hatte. Sie waren unterwegs zu einem Ort, an dem sie das noch immer in ihrem Besitz befindliche Manuskript genauer analysieren konnten.
»Der Mann, der die Anfragen schickte«, fuhr Michael fort, »dieser Arthur Bell, bezeichnete ihr Interesse daran als wissenschaftlich. Aber er gab sich keine große Mühe zu kaschieren, dass es eigentlich die religiösen Interessen seiner Gemeinschaft sind, die ihn dazu veranlassten.«
»Welche Art von religiöser Gemeinschaft findet antike gnostische Manuskripte wichtig? Das ist ein Feld der Wissenschaft. Wir sprechen hier nicht von Kopien irgendwelcher heiliger Schriften.«
Michael musste darauf nicht antworten. Der Gnostizismus als eigenständige religiöse Bewegung war bereits in der Spätantike erloschen, wie sie beide nur zu gut wussten.
»Abgesehen von ein oder zwei Glaubensgemeinschaften mit historischen Verbindungen«, sinnierte er laut, »wie die heutigen Mandäer, sind die einzigen Gruppen, die sich auf ein gnostisches Erbe berufen, zumeist dem New-Age zuzuordnen. Diese Leute sind fasziniert von dem leichten Mystizismus lang verlorener Geheimnisse und den antiken Ritualen. Und natürlich haben sie nicht die geringste Ahnung, wovon sie überhaupt reden.«
»Die Gruppe von Bell gehört also zu denen – zu den New-Age-Leuten? Hast du sie dir näher angesehen?«
»So gut ich konnte. Ich habe unter seinem Namen bei Google gesucht, aber das hat nichts Gescheites erbracht. Und da er nie eine Bezeichnung für seine ›alte religiöse Gemeinschaft‹ genannt hat, habe ich nicht viel in der Hand gehabt, um die Recherche fortzusetzen. Doch die Art der Anfrage und auch die fehlenden Referenzen sowie die Anspielungen auf ein religiöses Leben … Alles in mir sagt, sie sind eine Clique von neuen Spiritualisten, die durch den Zugriff auf Fragmente aus der realen Geschichte versuchen, eine Bestätigung für ihre Anschauungen zu finden.«
Unter anderen Umständen hätte er mehr Zurückhaltung an den Tag gelegt, aber da er allein mit Emily war, unternahm Michael keinen Versuch, in seiner Stimme die Abscheu zu unterdrücken, die er empfand. Und sein schwacher englischer Oberschichten-Akzent, der so leicht tröstlich klingen konnte, ließ diese Abneigung jetzt auf eindrucksvolle Weise deutlich werden. Für ihn war die ganze New-Age-Bewegung ein Witz – Gruppen mit vagen, gesellschaftlich populären Glaubensvorstellungen, die an sich keine Geschichte hatten, aber mithilfe irgendeines Denksystems, das ihren Anhängern heute gefiel, ein hohes Alter für sich zu reklamieren versuchten. Für ihn war die Ideologie maßlos und der Missbrauch der Geschichte akademisch gesehen widerlich. Falls sich herausstellte, dass hinter Andrews Ermordung eine derartige Gruppe steckte, hätte er noch einen ganz anderen Grund, sie zu verabscheuen.
Emilys Gefühle in Verbindung mit diesem Thema waren nicht so heftig. Als das Taxi scharf um eine Ecke auf die Curzon Street bog, ließ sie sich seine Worte durch den Kopf gehen.
»Wenn deine Vermutungen zutreffen, haben wir vielleicht einen Ansatzpunkt, um herauszufinden, warum sie hinter meinem Manuskript her waren.«
»Wie das?«
»New-Age-Leute stehen auf alles, was mit dem Anspruch auf verborgene Weisheit und geheimes Wissen verbunden ist; und das scheint auf dieses Manuskript zuzutreffen, von dem Wissenschaftler meinen, es sei etwas völlig anderes.«
Michael erkannte, worauf sie hinauswollte.
»Die Art von Objekt, von der die meisten New-Age-Gruppen fasziniert sind. Arkane, verborgene Geheimnisse. Mystische Offenbarungen. Verschleierte Wahrheiten, die ein gefälschter Text enthalten könnte.«
»Und wenn diese Gruppe wirklich glaubt, in diesem Text seien Geheimnisse verborgen«, folgerte Emily und tippte auf die Mappe in ihrem Schoß, »dann könnte es sich um etwas handeln, für das sie gewillt ist … bis zum Äußersten zu gehen.«
Dieser Anspielung auf Andrews Tod folgte ein unbehaglicher Augenblick des Schweigens. Michael konnte geradezu sehen, wie die Gedanken in Emilys Kopf herumwirbelten: Visionen von Spiritualisten auf der Suche nach Erleuchtung verknüpften sich mit Erinnerungen an Sommerwanderungen und das spätabendliche Teilen von Geheimnissen, wenn sie und Andrew sich am Lagerfeuer in ihre Schlafsäcke gekuschelt hatten.
Er streckte den Arm aus und nahm ihre Hand.
»So oder so, Em, es gibt nur einen Ort, an dem wir die beste Möglichkeit haben, das herauszufinden.« Er richtete sich auf und deutete mit dem Kopf nach draußen. Als Emily ebenfalls den Kopf hob, kam die unverkennbare Fassade des Britischen Museums in Sicht.
»Wenn auf dem Blatt etwas steht, für das zu töten es sich lohnt, dann – das verspreche ich dir – werden wir es finden.«