Kapitel 55
Vor dem Höhleneingang
Emilys Gesicht hellte sich auf, als Michael der Äußerung von Chris beipflichtete. »Ein Maß. Vor allem in den antiken Zivilisationen war die Hand eine verbreitete Maßeinheit. Sie ist nicht exakt, aber ausreichend für nicht millimetergenaue Längenmessungen. Die Breite einer offenen Hand, gewöhnlich die eines Mannes, gemessen von der Spitze des kleinen Fingers bis zur Spitze des Daumens.«
»Also haben wir ein Maß, das uns zu unserem eigentlichen Zielort führt«, bekräftigte Chris. Er nahm die Idee auf und dachte bereits weiter. »Doch von wo aus messen wir?«
»Von dem ›X‹«, erwiderte Emily, die inzwischen aufgestanden war. »Von genau hier aus. Wir stehen auf dem Vorsprung vor dem Eingang zu dieser Höhle. Wir müssen von dieser Stelle aus zweiunddreißig Handbreit abmessen, und zwar in einer geraden Linie Richtung Südwesten.«
Michael stellte die Frage, die auf der Hand lag. »Wo ist Südwesten?«
»Allzeit bereit«, murmelte Chris und wiederholte dieses Mantra, als er einen kleinen Plastikkompass aus seinem Rucksack fischte. Er konnte nicht umhin, Michael kräftig mit dem Ellbogen in die Rippen zu boxen, als er den Kompass ins Licht hielt, und sein Gesicht strahlte in neu aufgeflammtem Optimismus. »In dieser Richtung«, erklärte er, während er sich orientierte. Seine Hand wies entlang der Felswand schräg nach oben, ungefähr zwanzig Grad rechts von ihrer augenblicklichen Position.
Michael schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine – wo ist nach dieser Karte Südwesten?« Er zeigte erneut auf das ausgedruckte Dokument.
Chris’ Miene war nicht zu deuten, und er streckte einfach den Kompass noch einmal vor. »Ich hab dir bereits gesagt, Südwesten ist …«
»Heute«, unterbrach Michael ihn. »Südwesten ist heute in dieser Richtung. Aber diese Karte ist vor einigen Jahrhunderten gezeichnet worden.«
Emily nickte. »Vor 200, vielleicht 250 Jahren.«
»Und?«, hakte Chris nach.
»Ich bin sicher, du hast Erfahrung mit den Abweichungen des Magnetfelds, die heutzutage das Kartenlesen beeinflussen?« Michael wandte den Blick wieder Chris zu.
Der FBI-Agent nickte verblüfft.
»Die Abweichung des magnetischen Nordens vom echten Norden muss in jede Kompassberechnung mit einbezogen werden.« Chris sah auf das kleine Plastikgerät in seiner Hand hinab, mit einer leisen Ahnung, auf was Michael hinauswollte. Aber er war noch nicht ganz in der Lage, dem Gedankengang seines Freundes zu folgen.
»Und diese Abweichung ist abhängig vom geografischen Standort«, setzte Michael hinzu. »Und auch von … Na?«
Emily und Chris starrten ihn an, trauten sich aber nicht, etwas zu erwidern.
»Von der Zeit.« Michael beantwortete die Frage schließlich selbst. »Die magnetische Abweichung ist im Laufe der Geschichte unterschiedlich. Sie ist heute mit Sicherheit nicht dieselbe wie vor zweihundertfünfzig Jahren. Das ist ein Faktor, den wir bei archäologischen Ausgrabungen stets berücksichtigen müssen.«
»Das ist dein Fachgebiet, Michael«, bemerkte Emily. »Heißt das, du kennst die Werte?«
»Ich kann nur eine grobe Einschätzung vornehmen, denn wir wissen nicht das exakte Datum, an dem die Karte erstellt worden ist. Aber wenn deine Vermutung mit den zweihundertfünfzig Jahren richtig ist, würde ich die negative Abweichung hier auf ungefähr zehn bis elf Grad ansetzen, mehr oder weniger.«
»Was bedeutet?«
»Was bedeutet: Südwesten auf dieser Karte ist auf unserem Kompass Südsüdwest.«
Chris, der sich nun in Berechnungen vertiefte, schaute hinab auf seinen Kompass. Schließlich streckte er den Arm in einem neuen Winkel aus. »Das wäre dann diese Richtung.«
»Gut, das ist die Richtung. Es ist an der Zeit, die Messung vorzunehmen. Benutze die rechte Hand, Mike«, befahl Emily. Sie zog mit der Kappe ihres Schuhs ein X im Sand des Felsvorsprungs. Michael beugte sich hinunter und führte die Hand, dicht an dicht vom kleinen Finger zum Daumen, wieder und wieder über den Boden auf die rechte Seite des Höhleneingangs und weiter hinauf über das steile, steinige Terrain.
Kein Wunder, dass man eine Instruktion geschrieben und nicht die Stelle auf der Karte markiert hat, dachte Emily, während er sich voranarbeitete. Der Ort sollte nicht nur verborgen bleiben; die Entfernung zur Höhle ist zudem viel zu gering, um sie maßstabsgetreu auf der Karte wiederzugeben.
Nach zweiunddreißig Handbreit hielt Michael inne. Emily kletterte über die Felsen hinter ihm her und musste sich anstrengen, um neben ihm das Gleichgewicht zu halten.
»Em«, begann Michael, »da ist nichts, das …«
»Schhh!«, schnitt sie ihm das Wort ab. Alles in ihr sagte, dass sie auf der richtigen Spur waren.
Sie stellte sich aufrecht hin, hielt sich an Michaels Arm fest und suchte prüfend das Gelände vor ihnen ab. Unten, zu ihrer Linken, befand sich die kleine Höhle, vor der Chris immer noch stand. Zu ihrer Rechten gab es nichts außer noch mehr Felsen. Über ihnen setzte sich die Steilwand fort, und das Gestein war mit seinen Kanten, Buckeln und Vertiefungen in Licht und Schatten getaucht.
Und dann, während sie den Blick weiterhin über die Umgebung schweifen ließ, fiel ihr die Sinnestäuschung auf.
Von ihrer neuen Position aus tauchte plötzlich etwas oberhalb von ihnen, zwischen zwei großen Vorsprüngen, ein Spalt auf. Und dort, in diesem kleinen Zwischenraum, war etwas Schwarzes. Ihr Herz fing an zu klopfen. Sie machte einen Schritt nach links, und der Winkel änderte sich, der verborgene Raum verschwand. Zwei Schritte nach rechts – das Gleiche. Nur wenn sie sich wieder neben Michael stellte – an dem Punkt, der exakt zweiunddreißig Handbreit südsüdwestlich der Felskante lag, die auf ihrer Karte mit einem »X« markiert war –, wurde der winzige, nadelstichgroße dunkle Fleck über ihnen sichtbar.
Es war der Eingang zu einer zweiten Höhle.
Die Schnelligkeit, mit der das Trio zum Eingang der anderen Höhle hochkletterte, entsprach dem Enthusiasmus, der sie nach Emilys Entdeckung nun beseelte. Hier war kein ebener Felsvorsprung, auf den man sich stellen konnte. Lediglich die beiden Kanten, die die Höhle von unten vor Blicken schützten, boten einen Halt. Als sie dort außer Atem eintrafen und sich in riskanter Weise an den Fels klammerten, hatten sie keine Gelegenheit zu einer lockeren Unterhaltung. Michael, der als Erster oben ankam, zog sich in die Dunkelheit hinein. Emily folgte ihm, und Chris bildete die Nachhut.
In Sekundenschnelle waren sie aus der Wüstenlandschaft verschwunden – den Blicken anderer genauso entzogen wie die Höhle selbst.