Kapitel 35

Das Savoy, The Strand, London

Bei einer anderen Gelegenheit hätte der Thames Foyer Dining Room im Savoy mit dem Glanz seiner üppigen Ausstattung die Aufmerksamkeit von Michael und Emily wohl abgelenkt, aber heute wurden ihre Blicke nur zu einer einzigen Stelle im Innern des Raumes hingezogen. Chris saß an einem Tisch, der sich fernab vom Eingang befand. Der FBI-Agent sah noch fast genauso aus wie an dem Tag, als Michael ihn in Chicago zum ersten Mal gesehen hatte: fit und gut gelaunt, mit festen Gesichtszügen, die stets kurz vor einem Lächeln zu stehen schienen – oder kurz vor einem Witz, was recht häufig auch der Fall war. Sein Haar war immer noch im Navy-Stil geschnitten, wenngleich er inzwischen die Uniform abgelegt und sich für eine Kleidung entschieden hatte, die er ebenfalls nie wechselte: Sie bestand aus einer beigefarbenen Khakihose und einem blauen Blazer, unter dem er einen grauen Rollkragenpullover trug.

Chris saß neben seinem amerikanischen Importbier und trank – darauf beharrte er stets – aus der Flasche anstatt aus dem hingestellten Glas. Als er Michael und Emily auf sich zugehen sah, stand er auf, um sie zu begrüßen.

»Mike!« Der Ausruf wurde von einem aufrichtigen Lächeln begleitet. »Und ich bin so froh, auch dich zu sehen, Emily.« Chris schritt um den Tisch herum, um sie zu begrüßen, und schloss sie nach einem formellen Händedruck ohne jedes Erbarmen ungestüm in seine Arme. »Das mit deinem Cousin tut mir so leid. Wir werden dem Ganzen auf den Grund gehen, mach dir deshalb keine Sorgen.«

Emily nahm seine Umarmung hin und nickte dann. Chris war ein freundlicher und ehrlicher Mann. Sie war ihm für seine Worte dankbar.

»Deshalb sind wir ja hier«, sagte Michael, als die drei sich setzten. »Um dem Ganzen auf den Grund zu gehen.«

»Am Telefon hast du überzeugt geklungen, dass ihr bereits eine Vorstellung vom weiteren Vorgehen habt.« Chris nahm einen Schluck von seinem Bier.

»Haben wir«, antwortete Emily. »Weißt du noch, was Michael dir von dem Manuskript erzählt hat, wegen dem Andrews Mörder bei uns eingebrochen sind?«

»Das eine, von dem ihr sagt, dass es eine Karte enthält? Ja. Beeindruckendes Zeug – nach den paar Brocken zu schließen, die Mike mir hingeworfen hat.«

Emily öffnete ihre Handtasche und holte ein gefaltetes Blatt Druckerpapier heraus. Es war der Ausdruck der hochauflösenden Röntgenaufnahme von der alten Karte. »Das hier war auf der zweiten Seite des Dokuments verborgen, auf dem Blatt, das ihnen bei ihrem Einbruch entgangen ist.«

Chris nahm das Papier und prüfte es mit fachmännischem Blick. »Du weißt, wo das ist?« Chris war zwar nach außen hin immer leger und leutselig, aber er war ein hochtalentierter Taktiker und daran gewohnt, sich aus kleinen Informationsschnipseln das große Bild zusammenzusetzen.

»Das ist nur die zweite Seite«, erklärte Michael, »und vermutlich bräuchten die meisten Leute auch die erste, um sich orientieren zu können. Aber in den Jahrhunderten, seitdem dies gezeichnet wurde, ist der Ort in diesem Kästchen …« – er deutete auf das vorletzte – »… den Althistorikern recht gut bekannt geworden.«

»Es ist die Gegend rund um ein kleines Dorf namens Nag Hammadi«, fügte Emily hinzu. »Hast du schon mal davon gehört?«

»Tut mir leid. Ich bin kein Althistoriker.«

Emily rutschte auf ihrem Stuhl nach hinten. Die Gelegenheit, Chris ins Bild zu setzen, würde ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Geschichte lenken, die so ungefähr das Einzige war, das ihre Wut und auch ihre Trauer daran hindern konnte, hervorzubrechen und von ihr Besitz zu ergreifen.

»Im Winter 1945«, begann sie, »gruben zwei Bauern etwa zehn Kilometer von dem Dorf Nag Hammadi entfernt nach Dünger. Einer der Bauern, ein Mann namens Muhammed Ali, machte dabei eine Entdeckung, und wie sich herausstellen sollte, handelte es sich dabei um einen der wichtigsten Funde im zwanzigsten Jahrhundert …«

»Warte«, unterbrach Chris sie. »Muhammed Ali?«

»Nicht der Boxer, Chris«, seufzte Michael und schüttelte den Kopf.

»Hol euch doch der Teufel!«, blaffte Emily. »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Witze. Ihr könnt später herumblödeln, falls euch danach ist.«

Chris nahm sich zusammen, da ihm jetzt zum ersten Mal bewusst wurde, wie verletzlich Emily im Augenblick war. Sie gab sich so gefasst, dass ihre Gefühle verborgen blieben, doch er hätte davon ausgehen müssen, dass sie in tiefer Trauer war.

»Es tut mir leid, Emily«, sagte er. »Wirklich.«

Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und gab mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass es eher an ihren Nerven lag als an dem, was Chris gesagt hatte. Als sie die Fassung wiedergefunden hatte, fuhr sie fort.

»Muhammed fand einen großen irdenen Krug, der bei einem Höhenzug am Fuße eines Felsblocks vergraben war. Genauer gesagt, er fand ihn an diesem Steilhang.« Sie zeigte auf eine Linie in der Karte. »Als er sah, dass der Krug alt und mit Harz versiegelt war, bekam er es mit der Angst zu tun.«

»Angst?«

»Der al-Samman-Clan ist abergläubisch, so wie die meisten Völker mit althergebrachten Lebensgewohnheiten. Muhammed befürchtete, dass der Krug einen Dschinn enthielt, einen bösen Geist.«

»Aber der Gedanke an einen Schatz verdrängte die Angst«, fügte Michael hinzu. »Muhammed nahm all seinen Mut zusammen und zerschlug den Krug, und in dessen Inneren fanden er und sein Freund sehr alte Codizes versteckt.«

»Diese Papyrusbücher hatten Ledereinbände und waren sehr, sehr alt«, wusste Emily zu erzählen. »Einige waren in kleine Stücke zerfallen, andere in ziemlich gutem Zustand. Aber Muhammed und sein Kumpel hatten keine Ahnung, was die Pergamente wirklich waren. Sie kehrten in ihr Dorf zurück, und die Codizes wurden an verschiedene Leute in der Gemeinde verteilt. Muhammed warf seinen Anteil auf ein bisschen Stroh, das beim Ofen in seiner Hütte lag, und seine Mutter, die nicht erkannte, dass es sich um unbezahlbare Schätze aus dem vierten Jahrhundert handelte, die, seit sie mehr als sechzehnhundert Jahre zuvor im Sand versteckt worden waren, kein Mensch gesehen hatte, machte mit einigen davon Feuer zum Kochen.«

»Aber das bereut sie jetzt sicherlich!«, warf Chris erstaunt ein. »Die müssen ein verdammtes Vermögen wert sein.«

Michael warf ihm einen warnenden Blick zu, um zu versuchen, Chris’ unverbesserliche gute Laune zu dämpfen. Emilys Gesicht rötete sich.

»Sie sind wortwörtlich unbezahlbar«, sagte sie mit Nachdruck. »Tauschgeschäfte und Versuche von Muhammeds Freunden, sich ein bisschen Taschengeld zu verdienen, führten Gott sei Dank dazu, dass schließlich Sammler die Papyrusbücher in die Hand bekamen und erkannten, was da tatsächlich entdeckt worden war. Es dauerte zwar einige Jahre, doch alle noch vorhandenen Codizes konnten eingesammelt und zusammengesetzt werden, und heute befinden sie sich im Koptischen Museum in Kairo. Man ist sich weithin einig, dass sie den einen der zwei wichtigsten Manuskriptfunde der letzten hundert Jahre darstellen – der andere ist die Bibliothek von Dokumenten, die in der Siedlung Qumran am Toten Meer entdeckt wurde.«

»Die Schriftrollen vom Toten Meer? Von denen hab ich schon gehört.«

»Sie wurden ein paar Jahre später gefunden. Man muss schon eine Münze werfen, um zu entscheiden, welcher der beiden Funde seitdem in der Welt der Wissenschaft einflussreicher gewesen ist.«

»Das ganze Gebiet der gnostischen Studien wurde von diesen antiken Manuskripten neu beflügelt«, merkte Michael an. »Nahezu alles, was wir vor den Nag–Hammadi-Codizes über die Gnostiker und den Gnostizismus wussten, stammte aus Berichten zweiter Hand und der Feder antiker Autoren, die diese Geistesströmung und ihre Anhänger in Misskredit zu bringen suchten. Mit dem Fund von Nag Hammadi hatten wir erstmals eine Bibliothek gnostischer Texte, die von den Gnostikern selbst verfasst waren. Da eröffnete sich eine ganz neue Welt.«

»Das ist faszinierend«, sagte Chris. Er blickte auf den Papierausdruck der Karte. »Euer Manuskript enthält eine unsichtbare Karte, die zu diesem Fund führt?«

»Nicht ganz«, berichtigte Michael ihn. »Auf dieser Karte ist Nag Hammadi eine Zwischenstation, aber wie du sehen kannst, ist mit diesem ›X‹ da ein anderer Zielort markiert.« Er legte den Finger auf das letzte Kästchen. »Dieser Ort wird ›steinerner Schlüssel‹ genannt.«

»Und was ist ein steinerner Schlüssel?«

Emily zögerte. »Das … das wissen wir nicht.«

Chris runzelte die Stirn und sah sie fragend an.

»Aber«, fügte Emily hinzu, »wir wissen, dass die Männer nach ihm gesucht haben. Sie sprachen davon, diesen steinernen Schlüssel mithilfe der Karte aufzuspüren – und offenbar wollen sie ihn sich um jeden Preis beschaffen. Andrew, die Verwüstung des Hauses …«

Chris trank mit einem ausgiebigen Zug die Bierflasche leer. Nachdem er sie zur Seite gestellt hatte, beugte er sich vor, stützte beide Ellbogen auf die Tischplatte und sah Emily direkt an.

»Also, ich habe verstanden, dass die Karte uralt und wichtig ist. Ich habe verstanden, dass sie auf etwas hinweist, das die Killer deines Cousins haben wollen. Ich habe verstanden, dass du alles tun möchtest, was du kannst, damit sie für ihre Tat zahlen. Aber was ich nicht verstehe, ist, warum du dieser Karte folgen willst. Was ist dein größerer Plan?«

»Mein Plan ist es, diese Männer zu mir zu führen, und zwar auf eine Weise, die ich kontrollieren kann.« Emily beugte sich vor, um Chris’ Blick zu erwidern, ihre Augen wirkten intensiv und entschlossen. »Sie haben deutlich gemacht, dass sie uns nicht in Ruhe lassen werden – nicht, wenn sie bereit sind, noch mal an den Schauplatz ihres Verbrechens zurückzukommen, obendrein am gleichen Tag, und nach dem hier zu suchen. Folglich warten wir nicht erst auf weitere Versuche dieser Kerle: Wir gehen ihnen einen Schritt voraus. Sobald wir haben, was sie wollen, werden sie todsicher dahinterher sein. Wir können dafür sorgen, dass wir vorbereitet sind, und ihnen eine Falle stellen.«

»Und wie willst du das bewerkstelligen?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer.« Emily sprach die Worte mit solcher Wut aus, dass sie, trotz ihres Inhalts, wie ein Schlachtruf klangen. Nach ein paar Sekunden setzte sie, kaum weniger emphatisch, hinzu: »Aber ich bin fest entschlossen, mir dafür etwas auszudenken.«

Chris starrte sie einen Moment lang an, bevor er sich wieder zurücklehnte.

»Gut, ich habe gehört, was du zu sagen hast. Das ist interessant, und diese Sache mit dem Röntgen der geheimen unsichtbaren Tinte ist ziemlich cool. Aber dein Plan ist gefährlich, unklar und möglicherweise selbstmörderisch.«

»Und?«, fragte Michael.

»Und ich bin offensichtlich voll dabei.«

Emily, die den Atem angehalten hatte, atmete erleichtert aus.

»Danke, Chris!«

Er lächelte sie an. »Wann geht’s los?«

Michael streckte seinen Arm über den Tisch und ließ sein Handy vor Chris’ Gesicht baumeln. »Ich entziehe mich bereits den Verpflichtungen meines Jobs, und es ist uns gelungen, aus dem, was von unserem Haus noch übrig ist, unsere Pässe herauszuholen … Wenn du jetzt die Botschaft anrufst – besteht dann irgendeine Chance, dass du dir ab heute Abend freinehmen kannst?«

Der verborgene Schlüssel
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