Kapitel 5

Britisches Museum, London

»Michael, passen Sie mal auf. Schalten Sie die Kiste an!« Die ehrwürdige Gestalt von William H. Gwyth erschien im Türrahmen zum Büro des Distinguished Research Fellow für koptische Altertümer am Britischen Museum. Gwyth war das personifizierte Stereotyp des Gelehrten alter Schule, für Modetrends genauso unempfänglich wie für Denkströmungen jenseits seines Forschungsgebiets. Er blieb weiter an der Spitze der Abteilung »Altägypten und Sudan«, der er siebzehn Jahre lang vorgestanden hatte, obwohl er inzwischen das offizielle Pensionierungsalter des Museums um vier Jahre überschritten hatte.

Michael Torrance sah von seinem Buch hoch und ignorierte die Anweisung. Das Wort »Kiste«, das wusste er, bezog sich auf den Fernsehapparat, und er hatte zu viel zu tun, um sich davon ablenken zu lassen. Gwyth war ein Exzentriker, der stets darauf bestand, dass andere alles stehen und liegen ließen, um seinen Launen nachzukommen.

»Schalten Sie auf Channel 4!«, befahl der Achtzigjährige und trat ins Zimmer hinein. Da er Michaels mangelndes Interesse spürte, wedelte er demonstrativ mit seinen arthritischen Händen. »Lassen Sie einen alten Mann nicht zweimal bitten.«

Eine Sekunde lang überlegte Michael im Stillen, ob weiterer Widerstand die Schimpftiraden wert wäre, die er sich anhören müsste, wenn er der Anweisung nicht folgte. Als er einsah, dass dem nicht so war, holte er eine Fernbedienung aus der Schreibtischschublade und schaltete den winzigen Fernseher ein, der an der gegenüberliegenden Wand in der Mitte des Bücherregals stand. Sein Büro war traditionell und gediegen eingerichtet: Der Apparat wirkte daher wenig passend zu dem riesengroßen Schreibtisch mit seiner Schutzauflage aus burgunderrotem Filz, zu den überfüllten Bücherregalen an allen vier Wänden und zu den einstmals geordneten Papierstapeln, die sich von den obersten Brettern bis an die Decke türmten. Michael Torrance sah sein Büro erst seit sechs Monaten als zweites Zuhause an, doch bei der Unordnung hätten es auch sechs Jahre sein können.

»Was verdient heute Morgen eine so weltliche Ablenkung?«, fragte er, als der alte Fernseher allmählich das Bild aufbaute. William Gwyth war nicht gerade für seine Liebe zum Fernsehen, zur modernen Kultur oder zu überhaupt irgendetwas bekannt, das aus der Zeit nach dem fünften Jahrhundert stammte. Alles andere wurde von ihm pauschal als »moderne Neuerung« bezeichnet und entschieden abgelehnt.

»Dies«, antwortete Gwyth und zeigte auf den kleinen Bildschirm.

Michael wandte seine Aufmerksamkeit dem Fernseher zu, in dem ein Nachrichtenbeitrag mit der unwahrscheinlich klingenden Überschrift »Gnostischer Terrorist« betitelt war. Sein Gesicht verzog sich vor Überraschung. »Gnostischer Terrorist?«

»Ich dachte mir, dass dies Ihre Aufmerksamkeit finden würde«, erwiderte Gwyth mit einem zufriedenen Lächeln auf den vertrockneten Lippen. »Scheint, als sei ein Jüngling in den USA wegen irgendeiner Terroristensache verhaftet worden; und er behauptet, er sei einer Ihrer Gnostiker.« Er hob die faltenreiche Stirn, während er seinen verblüfften Kollegen anblickte. »So etwas bekommt man nicht alle Tage zu sehen, nicht wahr?«

Michael unterdrückte einen unanständigen Ausruf, der ihm auf der Zunge lag. Es war schon schwer genug, sein Forschungsgebiet im öffentlichen Bewusstsein von kultischer Mystik und von spiritualistischem Unsinn zu trennen. Dass der Gnostizismus, wenn auch nur in den Medien, mit dem Terrorismus in Verbindung gebracht wurde, war nun wirklich das Letzte, was er gebrauchen konnte.

Der Fernseher schaltete von dem Porträt des Nachrichtensprechers auf das Häftlingsfoto eines Mannes in Amerika um. Gwyths herablassender Ausdruck »Jüngling« war gut gewählt: Der Mann konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein. Mit seinem zerschundenen Gesicht sah er bemitleidenswert aus, doch Michael erkannte darin eine Selbstgefälligkeit, die auch von den Verletzungen nicht überdeckt wurde. Texteinschübe auf dem Bildschirm verwiesen darauf, dass er mit einem Scharfschützengewehr verhaftet worden war und nun behauptete, er sei in eine »heilige Mission« involviert, über die man keine weiteren Einzelheiten mitteilte.

»Vielleicht sollten Sie den Sender anrufen«, schlug Michaels Chef vor, als er sich zum Gehen wandte. »Sie könnten dann noch ›Terrorismusexperte‹ auf Ihre stetig länger werdende Liste an Berufsbezeichnungen setzen.«

Michael hörte Gwyth selbstgefällig lachen, als der den Flur hinunterging. Er richtete seinen Blick noch einige Augenblicke auf den Bildschirm, bevor er genervt den Fernseher ausschaltete. An Tagen wie diesen fragte er sich, ob sein Berufswechsel eine gute Idee gewesen war. Er hätte im Leben überallhin gehen und alles Mögliche tun können; denn er hatte bereits mehr Berufswege beschritten als so manch anderer. Er war früher einmal Architekt gewesen – oder genauer gesagt, ein paar Wochen bevor er durch eine plötzlich andere Weichenstellung auf dem Historikergleis gelandet war, hatte er sein Diplom in Architektur erhalten.

Diese geänderte Weichenstellung war in Form einer Frau dahergekommen. Alle in seinem Freundeskreis, auch Michael selbst, hatte es überrascht, dass er – ein Mann von guter englischer Herkunft und überdurchschnittlicher Intelligenz, der eine große Karriere in Aussicht hatte und seit frühester Kindheit stets von dem Wunsch angetrieben wurde, »eine bleibende Spur zu hinterlassen« – durch die Liebe aus der Spur geriet. Er hatte seit seiner Teenagerzeit nahezu jede Liebesbeziehung mit der Begründung »Karriere geht vor« beendet und seine Lebensplanung über die zeitweiligen Impulse romantischer Gefühle gesetzt. Aber bei dieser Frau war alles anders gewesen: Der Mann, der nie ins Wanken geriet, geriet ins Wanken. Der Architekt, dessen Praktikum sich dem Ende näherte und der sein Abschlusszeugnis bereits in Händen hielt, verfiel zunächst einer Historikerin und danach auch noch der Geschichtswissenschaft.

Michael hatte den Pfad der Geschichte schon zuvor einmal beschritten, während des Studiums, bevor ihn die Aussicht auf ein höheres Einkommen und eine natürliche Neugier für Struktur und Form davon abbrachten. Aber nur sieben Wochen nach seiner Hochzeit hatte Michael entschieden, die Welt der Architektur genauso schnell wieder zu verlassen, wie er sie betreten hatte, an die Universität zurückzugehen und in dem Gebiet zu promovieren, dem sein erstes Interesse gegolten hatte. Nun, da er sich mit einem Doktortitel brüsten konnte, den er in Koptologie erworben hatte, und voller Eifer für seine neue Laufbahn war, konzentrierte er sich auf gnostische Sozialgeschichte und die Randgruppen des ägyptischen Frühchristentums – als Teil eines prestigeträchtigen einjährigen Stipendiums am Britischen Museum. Die Faszination des Vierunddreißigjährigen für moderne Strukturen aus Glas und Stahl war nicht geringer geworden, doch an erster Stelle stand jetzt die Verlockung, die von anderen Interessen ausging.

Es war eine Verlockung, die ihn zu tiefgehendem und begeistertem Engagement inspirierte. Eine kürzlich eingetroffene Sendung von Töpferwaren aus dem Nildelta, die im dritten Jahrhundert vor Christus entstanden waren, hatte die ganze Abteilung zu einem langen Arbeitswochenende veranlasst und Michael dazu bewogen, in einer Ecke seines Büros zu übernachten. Er war natürlich nicht gern dazu bereit gewesen, auf den häuslichen Komfort zu verzichten und sich nur mit einem flachen Kissen und ein paar Laken zur Ruhe zu betten, damit er die frühen Morgen- und langen Abendstunden zum Arbeiten nutzen konnte. Zum Glück hatte seine Frau nicht dagegen protestiert. Sie war selbst ein Mensch mit großer Leidenschaft für die eigene Arbeit und hatte volles Verständnis dafür, wenn andere genauso empfanden.

Doch trotz seines Arbeitseifers und des Fleißes der Gelehrten in seinem Umkreis wurde Michael allmählich eine wichtige Tatsache klar: Wohin man auch schaute – nichts als Dummköpfe. Der Idiot im Fernsehen war keineswegs meilenweit entfernt von der Dummheit der Gruppe, die ihm den Brief geschickt hatte, der nun aufgefaltet auf seinem Schreibtisch lag. Fast schon genauso lange, wie er auf dem Arbeitsplatz hier saß, versuchte er, sie ein für alle Mal abzuweisen, indem er ihre hartnäckigen Anfragen ablehnte; aber sie schrieben ihm nach wie vor. »Zu wissenschaftlichen Forschungszwecken« bat ein »Gelehrtenkollektiv«, von dem Michael noch nie gehört hatte, um Zugang zu der Sammlung koptischer Manuskripte des Museums. Das Ansuchen war zwar stets vage formuliert, doch es handelte sich keineswegs um eine ungewöhnliche Anfrage. Andauernd wollten irgendwelche Gruppen Einsicht in derartiges Material, und das Museum gestattete dies auch normalerweise, aber diese Gruppierung fiel durch ihre Hartnäckigkeit besonders auf. Michael hatte sie bereits nicht weniger als fünf Mal abschlägig beschieden – mit der Begründung, sie hätte ihm weder einen Beleg für echte wissenschaftliche Absichten noch adäquate Referenzen für den Umgang mit antiken Materialien geliefert.

Aber manche Leute verstanden einfach einen Wink nicht, selbst wenn er noch so deutlich war.

Auf einmal musste Michael über die sonderbare Absurdität seines Morgens kichern. Eine Gruppe von Idioten in Großbritannien wollte unbedingt Zugang zu unschätzbar wertvollen Manuskripten bekommen, während ein einsamer Idiot in Amerika behauptete, ein »gnostischer Terrorist« zu sein. Die alten Gnostiker und der heutige Terrorismus, das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht, sinnierte Michael. Beides miteinander zu verbinden war ein Schwachsinn, der für kurze Zeit das Objekt einer vorhersehbaren Fehlinterpretation seitens der Medien darstellen würde.

Mit einem Seufzer warf er den Brief in den Papierkorb zu seinen Füßen und verbannte die ganze Angelegenheit aus seinem Kopf.

Der verborgene Schlüssel
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