Kapitel 52

Die Felswand, nordwestlich von Nag Hammadi

Sie kletterten weitere fünfzehn Minuten lang nach oben, dann hatten sie den kleinen Absatz unterhalb des schwarzen Lochs im Fels fast erreicht. Der untere Abschnitt der Felswand war zwar der steilste gewesen, doch nach Michaels Missgeschick hatten sie das Tempo stark verlangsamt: Erst von da an war ihnen richtig bewusst gewesen, wie gefährlich der Aufstieg war.

Chris kletterte gleichmäßig weiter, obwohl er inzwischen erneut beunruhigt war. Der Grund dafür hatte allerdings nicht nur etwas mit Michaels Beinahe-Absturz zu tun. Chris blickte zurück, in die Ferne und über die Wüste hinweg, die hinter ihnen lag. Sie waren völlig allein, und der Ort hier war völlig abgelegen.

Trotz der sengenden Hitze zitterte Chris mit einem Mal. Ob dies an seinem ausgeprägten Misstrauen oder an einem schlichten Gefühl der Beklommenheit lag, ihn beherrschte plötzlich nur noch ein einziger Gedanke, dessen Inhalt unmissverständlich war.

Wir sind hier nicht allein.

Danach ließ ihn der Verdacht alle dreißig Sekunden über die Schulter blicken, doch er entdeckte keinerlei Anzeichen, dass sich sonst noch jemand in dem Gebiet aufhielt. Da unten waren keine weiteren Fahrzeuge zu sehen, keine weiteren Körper oder Bewegungen am Berg, und es gab auch keine anderen Geräusche als ihre eigenen.

Doch das Gefühl verließ ihn nicht.

Hinter irgendeiner der Dünen könnte ein Auto stehen. Ein Mann könnte auf einer anderen Route zu Fuß unterwegs sein. Nicht alle Leute sprechen beim Klettern.

Es gab viele Möglichkeiten der heimlichen Beschattung; und dieses Wissen verhinderte, dass der Gedanke, trotz fehlender Hinweise oder gar Beweise, Chris aus dem Kopf ging.

Als sie einige Minuten später den Felsvorsprung erklommen, der sich unter dem Eingang zu der kleinen Höhle befand, war Chris alles andere als wohl. Er suchte aufmerksam die Umgebung ab.

»Wir sind da, nach all den Jahrhunderten«, sagte Emily und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie tat einen Schritt nach vorne und bestaunte die schiere Tatsache, dass die Höhle existierte. »Von einer digitalen Röntgenaufnahme in London zu einer Höhle in der Wüste.«

Michael legte ihr eine staubige Hand auf die Schulter und drückte sie fest. Nach seiner Nahtod-Erfahrung beim Aufstieg raste sein Herz immer noch, dennoch konnte er die Veränderung im Verhalten seiner Frau sehen. Was immer als Nächstes kam, die Karte hatte sie jedenfalls zu einem ganz bestimmten Ort geführt. Somit handelte es sich bei ihr weder um einen Scherz noch um einen Betrug, und dies bestätigte zumindest, dass Andrews Tod nicht die Folge eines Versehens war. Hier ging es um eine größere Sache, und sie standen vor dem Beweis dafür. Und allein schon dies schien Emily ein Trost zu sein.

Michael wandte seine Aufmerksamkeit Chris zu. »Irgendwelche Anweisungen, Chef?«

Chris zwang sich, nicht mehr ständig mit den Augen das Gelände unterhalb von ihnen abzusuchen, und sich dem kleinen Eingang zur Höhle zuzuwenden. Er besah sich die Sache gründlich, setzte dann seinen Rucksack ab und holte drei Taschenlampen heraus. Zwei davon reichte er Michael, dann gab er in einem militärischen Tonfall Anweisungen.

»Lasst die Lampen noch kurz ausgeschaltet, wenn wir hineingehen. Der Kontrast zwischen der Helligkeit draußen und der Dunkelheit drinnen ist drastischer als Tag und Nacht. Lasst euren Augen für die Umstellung ein paar Minuten Zeit.«

Michael nickte und reichte Emily eine Taschenlampe. Doch seine Frau schien es nicht zu bemerken. Ihr Gesichtsausdruck verriet intensive Konzentration – auf was genau, wusste Michael allerdings nicht.

»Bist du okay, Em?«, erkundigte er sich. Einen Moment lang war er besorgt, dass die Trauer um den Verlust von Andrew wieder die Oberhand über ihr Gefühlsleben gewonnen hätte.

»Mir geht’s gut, mir geht’s gut«, antwortete sie. Ihr Tonfall sagte jedoch etwas anderes.

Schließlich hörte sie auf, mit leerem Blick in die Ferne zu schauen, und wandte das Gesicht ihrem Mann zu. »Ihr beide geht als Erste rein. Ich brauche einfach noch eine Minute.«

Michael ließ die Augen auf ihr ruhen, dann drückte er ihre Hand. »Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Chris und ich werfen einen ersten Blick darauf, was uns im Inneren erwartet.« Er beugte sich vor und gab ihr einen hastigen, aber zärtlichen Kuss, dann drehte er sich zum Eingang der Höhle um.

»Na schön, mein Freund«, sagte er zu Chris, während sein Puls vor Aufregung pochte. »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.«

Ohne weitere Verzögerung machten er und Chris die ersten Schritte in die Finsternis hinein.

Emily konnte die beiden murmeln hören, als sie einige Minuten stehen blieben, damit ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Während sie wartete, rasten ihr Gedanken durch den Kopf – die jedoch nicht um den Verlust und auch nicht um die Empfindung kreisten, die Michael vermutet hatte. Sie war mit etwas völlig anderem beschäftigt.

Das ist zu offensichtlich, zu einfach, schoss es ihr in den Sinn, als sie an frühere Abenteuer in ihrem Leben zurückdachte, bei denen sie in die Irre geleitet worden war, als sie dem allzu einfachen Weg folgte. Seit Gott weiß wie langer Zeit ist dieser steinerne Schlüssel – was auch immer das ist – verborgen geblieben. Doch jetzt sind wir hier, direkt an der Schwelle zu seiner Entdeckung. Eine einzige Karte. Ein simpler Fußmarsch. Ein Schatten, der eine Höhle verbirgt … aber das kann doch nicht schon alles sein.

Einen Augenblick später schalteten Michael und Chris in der Höhle ihre Taschenlampen ein.

Das kann nicht alles sein, schoss es Emily weiter durch den Kopf. Das fühlt sich nicht an wie der letzte Schritt bei der Auflösung eines Rätsels. Es fühlt sich an wie … wie der erste.

Michael und Chris flüsterten in der Höhle, aber Emily hörte ihre scharfsinnigen Bemerkungen nicht. Sie nahm erst von Michaels Stimme Notiz, als er schließlich laut nach ihr rief.

»Emily!«, rief er mit angespanntem Tonfall. »Du wirst nicht glauben, was wir hier gefunden haben.«

Aber Emilys Verstand hatte den Sprung bereits vollzogen. Sie wusste, was sie entdeckt hatten. Ihr kam nur ein geflüstertes Wort über die Lippen.

»Nichts.«

Der verborgene Schlüssel
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