#50 T-1: 16:40
Wir sind völlig high und turnen mit letzter Kraft durch die Halle, als ob uns Kevin Bacon gerade das Tanzen beigebracht hätte. Der Schlafentzug, der Durst - alles vergessen. Dabei hauen wir uns gegenseitig Befehle um die Ohren, die uns wichtige Menschen wie Chuck Norris oder Steven Seagal beigebracht haben.
»Isolierung freigelegt?«
»Positiv.«
»Kontakte lokalisieren.«
»Copy.«
Nick hat sich selbst übertroffen. Von allen durchgeknallten Plänen, die mir von ihm in den letzten fünfundzwanzig Jahren präsentiert wurden, hat dieser es echt am meisten verdient, aufzugehen. Wir werden aus diesem Scheiß-Hangar ausbrechen, bevor John uns über dem Meer entsorgen kann, und zwar mithilfe des Game Boys. Theoretisch ist alles ganz simpel. Unser Angriffsziel ist das Codeschloss. Es gibt zwei Tastenfelder - eins draußen neben der Tür und eins seltsamerweise hier drin. Wer zur Hölle schützt einen Raum von innen mit einem Codeschloss? Antwort: zum Beispiel jemand, der hier drinnen Verhörmethoden anwenden will, die von der Genfer Konvention nicht gedeckt sind. Genau vielleicht ist das eins von den »schwarzen«
Gefängnissen, die die CIA heimlich rund um die Welt betreibt, um die bösen Jungs ganz ungestört durch den Wolf drehen zu können. Konzentrieren, zurück zur Sache. Am Codeschloss selbst können wir nichts machen, das ist vom Typ Eingang zum Biowaffen-Labor, rundherum mit Stahl zugepappt, da kannste mit der Panzerfaust draufballern und es geht trotzdem nicht auf. Aber wie üblich hat die Datacorp nicht so gründlich gearbeitet, wie wir immer dachten. Die Amis liefern eben kein German Engineering. In der Ecke des Hangars, direkt über dem Boden, vereinigt sich der stahlverkleidete Kabelstrang aus dem Codeschloss mit den Kabeln von draußen. Und genau da hat Nick eine Schwachstelle gefunden: einen halben Zentimeter ohne Abschirmung. Es hat gut zehn Minuten gedauert, bis wir die Gummi-Isolierung mit dem Autoschlüssel abgehobelt hatten, aber jetzt ist die Luke frei, über die wir ins elektronische System einsteigen können: Drei Kabel ragen aus der Alu-Abschirmung raus: ein rotes, ein schwarzes und ein weißes. Gott sei Dank scheint Nick nicht den geringsten Zweifel darüber zu haben, was jetzt was ist.
»Okay, das Codeschloss hängt an 'ner RS-485, das heißt, wir nehmen die positive Datenleitung, und die negative ...«
Er biegt das rote und das schwarze Kabel nach vorne und brabbelt weiter in seinen fleckigen Dreitagebart.
»Sobald jemand auf dem Tastenfeld auf Eingabe drückt, geht der Code hier durch - und wir werden zuhören.«
Ich reiche ihm unsere Waffe: den Game Boy. Warum haben die Idioten bei Nintendo das Kameramodul nur mit diesen bescheuerten Schrauben zugemacht, die oben drei Schlitze drin haben? So blieb mir nichts anderes übrig, als die Kamera vorsichtig oben abzubrechen. Jetzt ist der Weg zu den Innereien des Moduls frei. Am Rand der Platine hängt eine Leiste, aus der ein ganzer Strauß von lila Kabeln rausquillt; wie das Rückenmark eines Geköpften, sagt das vom tausendfachen Splatter abgestumpfte Hirn. Nick zählt die GameBoy-Anschlüsse leise durch.
» ... fünf, sechs, sieben - den nehmen wir - und die Acht.«
Er biegt die Kabel vorsichtig nach vorne, bis sie direkt an die aufgerissene Datenleitung vom Codeschloss ranreichen. Dann zwirbelt er die Litzen zusammen.
»So, jetzt nur V-out und Read an Data plus und Data minus ran -und schon hören wir mit.«
Wenn du es sagst, Alter. Prinzipiell ist die Sache klar: Wir haben das geköpfte Kameramodul mit dem Datenkabel des Codeschlosses verbunden. Und so schnappt die Falle zu: Sobald John draußen die Zahlenkombination eintippt und die Daten mit Enter an den zentralen Server raus schickt, wird der Game Boy denken, jemand hat ein Foto gemacht und eine dreißigstel Sekunde lang alle Bilddaten aufzeichnen - und damit auch den Türcode. Scheißbrillant. Alles, was wir dann noch machen müssen, ist, die Pixel auf dem GameBoy-Bildschirm genau unter die Lupe zu nehmen: Jedes »1«-Bit wird vermutlich als kleiner schwarzer Balken zu sehen sein, bei einer »0« bleibt die Bildschirmzeile leer. Mit ein bisschen Glück müsste sich aus dem Pixelsalat die Zahlenkombination ablesen lassen. Dann steht einem Ausbruch nichts mehr im Weg: Wir geben den Code ein und verpissen uns heimlich und John muss ohne uns abfliegen. Doch das alles klappt natürlich nur, wenn wir unseren lieben Ex-Chef dazu kriegen, noch einmal den Tür-Code einzugeben. Ich schaue zu Nick rüber. Er liegt mit dem Bauch auf dem Boden und nestelt am Game Boy rum.
»Moment«, stöhnt er. Weil wir - haha - nichts zum Löten haben, besteht unser Codeknacker aus einem Geflecht von zusammengeknoteten Kabelchen, die beim geringsten Windstoß wie ein Mikadospiel auseinanderfallen.
»Okay, jetzt bloß nichts mehr bewegen«, murmelt Nick und robbt erst vorsichtig ein Stück zurück, bevor er aufsteht.
»System scharf«, er klopft sich demonstrativ den Staub von den Händen, »dein Einsatz.«
Also los, wer weiß, wie lange die GameBoy-Batterien mitmachen. Ich bollere mit voller Kraft gegen die Tür. Überraschung. Die Stahltür gibt unter meiner Faust ein bisschen nach, so richtig ausbruchsicher scheint die Sache nicht zu sein. Okay, jetzt dreimal draufhauen, dann fünf Sekunden Pause und wieder von vorne. Wumm,wumm,wumm. Nick schleicht sich neben mich und streckt den Alles okay-Daumen aus. Ich haue nochmal zu: wumm, wumm, wumm. Warten, hören. Noch nichts, also nochmal. Wumm, wumm, wumm. Wieder warten. John kriecht bestimmt am anderen Ende des Flugfeldes rum, da braucht er ein bisschen, um rüberzukommen. Wumm,wumm,wumm. Nichts. Also von vorne. Nick packt meinen Arm.
»Da! «, flüstert er. Wirklich, Ledersohlen klappern über den Vorplatz. Okay, jetzt müssen wir ganz locker tun. Nick streicht sich die Haare glatt und versucht, die Falten aus seinem T-Shirt rauszuziehen. Wohin mit den Armen? Wir bauen uns direkt hinter der Tür auf und sehen vermutlich wie zwei Jungs aus, die vor dem Büro des Schuldirektors stehen. Die Schritte stoppen. Jemand steht direkt vor der Tür, berührt das Tastenfeld. Jetzt kommt es drauf an: Wenn unser kleiner Freund von 1989 nicht aufpasst, haben wir unsere letzte Munition verballert. Klick, das Türrelais knarrt und die Mittagssonne knallt wie eine Supernova in den Hangar.
»Ja, bitte?«, sagt der schwarze Umriss im Türrahmen.
»Ja, äh, can we get something to drink« , stottere ich.
»Es tut mir leid. Aber wie ich schon sagte: Sie müssen sich noch kurz gedulden«, gibt John genervt zurück, »sorry«.
Noch bevor unsere Pupillen die Chance haben, sich auf Stecknadelkopfgröße zusammenzuziehen, schmeißt er die Tür wieder zu. Immerhin hat er den Code eingegeben, darauf kam es an. Jetzt noch ein bisschen warten, damit wir sicher sein können, dass John auch wirklich weg ist und nicht in ein paar Sekunden mit einer Gallone Wasser in der Hand die Tür aufreißt. In unserem ach so tollen Hack stecken natürlich einige »Wenns« drin. Was ist, wenn das rote Kabel gar nicht das tut, was Nick denkt, sondern was völlig anderes? Was ist, wenn das Codeschloss so schnell Daten sendet, dass der Game Boy nicht mitkommt - oder so langsam, dass unsere dreißigstel Sekunde nicht ausreicht, um alles aufzunehmen? Und was ist ... ist ja auch egal. Mit der GameBoy-Cam jedenfalls kennt sich der Beifahrer wirklich aus, er hat die Bilder zuhause sogar mit 'nem Mikrocontroller mal auf eine normale Foto-Speicherkarte rübergezogen. Okay, genug gewartet. John scheint wirklich abgezogen zu sein, um uns hier verdursten zu lassen, der Drecksack. Wir stürmen in die Ecke und werfen uns sofort vor dem Game Boy auf den Boden. Vorsichtig wie Mel Gibson beim Bombenentschärfen drücke ich mich durch die Menüs. VIEW, ALBUM, Foto anwählen.
»Und?«, drängelt Nick.
»Moment, Moment«, halte ich ihn hin. Er schnauft mir direkt in den Nacken.
»Komm schon, komm schon, kleiner Schlagmann, mach mit!«
Vergiss es, auch Ferris kann die Sache nicht beschleunigen. Mann, Alter. Ich schubse ihn weg. Vor lauter Aufregung ist er an die Drähte gekommen und hat den Game Boy von der Netzwerkleitung getrennt. Egal, wir brauchen den Aufbau ohnehin nicht mehr, denn John wird sicher nicht nochmal kommen, da können wir trommeln, solange wir wollen. Ich hebe den Game Boy hoch und halte ihn genau in den Lichtstrahl, der vom Dach reinfunzelt. Der Hintergrund des Displays sieht vergilbt wie Zeitungspapier aus, das ein Jahr lang in der Sonne gelegen hat. Doch es ist nicht leer. Breite Fäden aus Flüssigkristallen ziehen sich durch das Display, als ob man einen Strichcode breit gekloppt hätte. Bingo, das sind die Daten, die das Codeschloss rausgeschickt hat. Wir sind wieder im Spiel. Er will es einfach nicht wahrhaben. Er will nicht wahrhaben, dass er weitsichtig wird. Dabei weiß ich es und er weiß es. Seit mindestens einem halben Jahr hält er seine uralten LCD-Games so komisch weit weg, wenn er sie mal wieder rauskramt, um sich zu beweisen, dass er es immer noch drauf hat. Bei Dr. Dental zum Beispiel, diesem Teil, bei dem man verhindern muss, dass die Zähne vom Karies weggeknuspert werden: Da muss er den Arm schon richtig durchdrücken, um noch alles richtig erkennen zu können. Trotzdem sieht es der Herr nicht ein, dass er nicht mehr Häuptling Adlerauge ist. Nick piekst so doll gegen den Bildschirm, dass mir der Game Boy fast aus der Hand fällt.
»Das vierte Byte ist definitiv eine Sieben: Guck doch mal: Weiß, weiß, schwarz, schwarz, weiß, schwarz, schwarz, schwarz! Ich sags dir, das Muster kenne ich: Der Code für das Schloss endet mit einer Sieben!«
Wenn ich eine Sache nicht ab kann, dann, dass er auch noch mein letztes Fitzelchen Wissen mit seinem analfixierten Kleingescheiße entwertet.
»Aber ist Sieben in binärer Schreibweise nicht einfach nur fünf Nullen und drei Einsen?«, pflaume ich zurück.
»Jajaaaa ...“, holt Nick aus. Es folgen: diverse EDV-Belehrungen. Wenn es nicht total kindisch wäre, würde ich mir am liebsten beide Finger in die Ohren stecken und laut »Lalala« singen, nur um sein Geseiere nicht mehr hören zu müssen. Ich fahre meinen Ellenbogen aus, damit er mir endlich von der Pelle rückt.
»Du willst mir also sagen, dass die ultrageheimen Megaprofis von der Datacorp bei einem Zahlenschloss so ein Kindergartenhacker-Kürzel als Code benutzen?«
Nick zuckt mit den Schultern.
»Die denken halt, sie wären die Elite...“ Warum redet er nicht weiter? Dieses leise Grummeln - ist das etwa schon die Maschine, mit der uns John wegbringen will? Oder vielleicht nur ein Gewitter? Nein, der Himmel war strahlend blau, als er uns hier reingesteckt hat. Es muss ein Flugzeug sein, klingt nach einem kleinen Jet, vielleicht eine Citation, und er scheint auch nicht einfach nur vorbei zu fliegen, dann würde das Düsengeräusch wieder abschwellen. Es wird aber ganz klar lauter. Nick dreht seine Handflächen nach außen, als ob er erwartet, dass ich meine Antwort endlich reinwerfe.
»Okay, Alter, wir probieren es mit der Sieben am Schluss!«, lenke ich ein. »Haben eh nur einen Versuch«, keucht der Beifahrer, während er zum Tastenfeld rüberstürzt. Ganz ohne das übliche Drama hackt er die Zahlen rein. Piep, piep, piep, piep. Dann kann er sich doch nicht verkneifen, die Spannung ein bisschen auszukosten. Er lässt seinen Zeigerfinger in letzter Sekunde über dem Enter-Knopf kreisen und stiert mich mit aufgerissenen Augen an.
»Und wenns klappt? Wohin?«
»Keine Ahnung, raus aufs Lavafeld«, schlage ich vor, »mit dem Van kommt John da nicht durch, und hinterherrennen kann er uns mit seinen ganzen Verletzungen nicht.«
Ich lehne mich schon mal mit der Hand auf die Klinke, für den Fall, dass gleich der Türsummer losrappelt. Nick trippelt vorsichtig zu mir rüber, bis er direkt hinter mir steht - dabei behält er seinen Finger aber weiter auf dem kleinen Edelstahl-Quadrat, in das ENTER eingraviert ist. Die Triebwerke dröhnen durchs Oberlicht. Ich schließe die Augen.
»Wir sehen uns auf der anderen Seite, Alter«, flüstert der Beifahrer. Was soll das heißen? Dann drückt er auf die Taste. Schmerz. Grelles Licht, wie von einer Atomexplosion. Sarah Connor klammert sich am Zaun fest, bevor ihr der atomare Feuersturm das Fleisch vom Körper reißt. Keine Sicht, also erst mal Stopp. Weiterrennen wäre Quatsch, sonst knallen wir noch irgendwo gegen. Au, Scheiße, Alter! Nick ist mir voll in die Hacken gestiegen, ist einfach weitergerannt. Das Augenlicht kommt zurück. Rechts kreischen Turbinen. Richtig getippt, eine Citation, setzt hinten am Ende der Landebahn gerade zum Überflug an. Weiß, unmarkiert, die lange Version mit sieben Fenstern, ziemlich übertrieben für drei Passagiere. Der Pilot lässt den linken Flügel runtersacken, wahrscheinlich um zu checken, ob er auf der zerfurchten Piste überhaupt aufsetzen kann. Wo ist bloß John? Wenn es nur nicht so beschissen hell wäre. Doch, da ist John, er hastet über das kleine Vorfeld auf die Landebahn zu. Jetzt reißt er den Kopf herum - und, zack, schon hat er uns gesehen! So viel zu unserer unauffälligen Flucht. Jetzt beginnt also das Rennen. Wie groß ist unser Vorsprung? Keine Ahnung, vielleicht dreißig Meter, das könnte reichen, um ihn auf Distanz zu halten. Lieber Gott, lass ihn keine Waffe haben. Beim Aussteigen vorhin hatte er jedenfalls nicht zum Handschuhfach gegriffen, die Glock müsste also noch drin liegen. Müsste.
»Umkehren, da ist er!«, schreit Nick von hinten. Redundant bis zum Schluss, der Gute. Also sofort umkehren. Obwohl-warum? John hat uns zwar gesehen, doch er humpelt vorwärts, und zwar von uns weg. Er verrenkt den Hals so, dass er uns weiter im Blick hat. Sein Gesicht ist zu einer angestrengten Fratze verzerrt. Warum schleppt er sich denn bloß weiter, dabei platzt ihm garantiert alles auf, was sie im Krankenhaus gerade erst zusammengeflickt haben. Müsste er nicht auf uns zu laufen, uns aufhalten? Vielleicht hat er im ganzen Chaos den Überblick verloren. Wir müssen jedenfalls sofort in die andere Richtung rennen, zurück zum Haupttor.
»Alter, zurück zur Straße!«, brülle ich zur Seite. Warum antwortet er nicht? Umdrehen. Nick stolpert weiter mit hochrotem Kopf vorwärts, hinter meinen Fersen her. Dabei schreit er irgendwas. Wow, das war laut. Der Jet rast direkt vor uns vorbei; er ist schon so tief runter, dass die Räder fast die Landebahn berühren. Scheint aber trotzdem nicht aufsetzen zu wollen, nein, der Pilot drückt den Gashebel bis zum Anschlag nach vorne, als ob er durchstarten will. Nick reißt den Mund auf. Was ist da, Alter? Vergiss es, ich kann dich immer noch nicht verstehen. Wart noch ne Sekunde, bis der Jet vorbei ist. Der Beifahrer schleudert seinen Arm immer wieder hinter sich, zeigt auf irgendwas. Ach du meinst die! Dann können wir ja eigentlich auch aufhören zu rennen. Es sind drei schwarze Umrisse. Sie huschen durch den Schatten des Hangars, in dem wir bis vor einer Minute noch eingesperrt waren. Irgendwie scheinen sie schwerelos zu gleiten, wie die smarten Kugeln in »Runaway« mit Selleck. Sie bewegen sich völlig synchron, als hätten sie sich abgesprochen. Bis auf die vierte Person, die scheint das Tempo nicht mitgehen zu können, sie fällt zurück, während die anderen Schatten weiter wachsen. Weil diese Leute hier sind, schleppt John sich also weiter zur Piste rüber. Er überlässt ihnen den dreckigen Job, damit er in Ruhe in seinen Jet steigen kann. Die Umrisse sind hier, um uns zu töten. Da, sie haben die Ecke des Hangars erreicht, wo gerade noch keine Sonne hin scheint. Sie stellen sich hintereinander auf - vielleicht eine Angriffsformation, damit man nicht sieht, wie viele es sind. Jetzt hechtet der erste aus dem Schatten: schwarze Klamotten, Springerstiefel, irgendein Helm auf dem Kopf, sieht nach Söldner aus. Die Datacorp überlässt die Sache also den Profis, wir haben keine Chance. Und der Typ hat eine Schrotpumpe in der Hand. Das reicht definitiv. Genug gerannt, jetzt ganz sachte den Schritt verlangsamen, bloß keine hektischen Bewegungen machen. Nick hat ihn auch gesehen. Er lässt sich sofort auf den Boden fallen, Hände hinterm Kopf. Ist vielleicht am klügsten. Die anderen zwei Umrisse rücken nach, die Typen sind von der gleichen Sorte, schwarzer Overall, Sonnenbrille, Stahlhelm, Pumpgun im Anschlag. Komisch, die werden überhaupt nicht langsamer, sondern rennen volle Suppe weiter, als ob sie an uns vorbei wollten. Da hätte der Beifahrer sich ja gar nicht hinwerfen müssen. Der letzte Umriss humpelt ins grelle Sonnenlicht. Ein Hawaiihemd? War ja klar, dass der Drecksack bei der Aktion dabei ist. Shaun. Freut sich wahrscheinlich wie bescheuert, mich aus dem Weg räumen zu können, damit er an Andie rankommt. Scheiß Jet, dreht noch 'ne Platzrunde, warum geht der nicht endlich runter? Ja, Shaun-Baby, dadurch, dass du mit den Armen wedelst, verstehe ich dich auch nicht besser. Was soll ich machen? Über Shauns Gesicht läuft die Suppe in Strömen. Nett, dich zu sehen, Arschloch. Seine Speckwangen glänzen und hüpfen auf und ab, weil er mich so laut anbrüllt. Aus seinem Hals quillen die Adern wie Stromkabel. Keine Chance, Mann, ich kann dich nicht verstehen. Was sagt er bloß? Konzentrieren, auf seine Lippen gucken. Get. Down. Er sagt »get down«, ich soll auf den Boden runter, genau wie Nick. Okay, dann ist es jetzt so weit. Der Beton riecht gut, nach heißem Staub, wie die Wege in der Ferienanlage in Südfrankreich, wo Papa immer hinfahren wollte. Das wärs: eine Familie haben, die man da runterkutschieren kann, mitten in der Nacht losfahren, die Kinder schlafen lassen und erst aufwecken, wenn schon die Lavendelfelder vorm Fenster vorbeiziehen. Wo bleibt John nur? Will er nicht mal zugucken, während seine Jungs ihre Arbeit tun? Ich hätte erwartet, dass er uns - wenn überhaupt - zumindest selbst erledigt. So was zu delegieren passt nicht zu ihm, dem Gentleman. Seltsam, John scheint gar nicht zu bemerken, was für ein Zauber bei uns hier drüben abläuft. Er stürzt immer weiter auf die Landebahn zu. Sein Sakkozipfel zappelt nervös hin und her, wie ein Wipfel an einem Ausflugsdampfer. Plopp. Was war das? Eine rote Wolke schießt aus Johns Bein. Sein Körper sackt nach vorne, als ob ihm jemand mit einem unsichtbaren Balken ins Kreuz geschlagen hätte. Er stolpert, kann sich nicht mit den Armen abfangen, kracht mit dem Kiefer voll auf den Beton. Das Geräusch eben, natürlich, das war ein Schuss. Sie haben ihn erschossen. Ich drehe mich um. Nick hat den Kopf auch nach oben gereckt, kneift die Augen angestrengt zusammen. Spucke und Tränen tropfen an seinem Kinn runter. Er schaut einen Moment lang ungläubig, dann lässt er die Stirn entkräftet auf den Beton sinken. Der Boden riecht wirklich gut. Viele Menschen sind hier, auf einmal, ganz viele. Sie berühren uns nicht, aber sie sind da. Der Boden zittert unter ihren Schritten. Ob sie zu John gehören? Nein, das sind die, die ihn erschossen haben. Im Prinzip war er ja okay, irgendwie. Ich öffne die Augen nochmal einen Spalt, so wie damals, als ich bei Nick so getan habe, als würde ich nicht hingucken, welchen Weg er zu Josephs Brüdern fährt. Das Gitternetz der Betonfugen verliert sich in der Ferne. Wie ein schlechtes LP-Cover aus den Achtzigern; fehlt noch die Chromkugel auf der Fluchtpunktebene. John hat es noch bis an den Rand der Runway geschafft, dann hat sein früher so stählerner Astronautenkörper den Dienst quittiert.
»It's the saddest moment of my life«, hat Ed White gesagt, als sie ihn nach dem ersten Weltraumspaziergang in die Gemini-Kapsel zurückgezerrt haben. Der traurigste Moment meines Lebens. Schwarze Stiefel kreisen um ihn, wie Raben um einen platt gefahrenen Igel auf der Landstraße. John liegt kopfüber auf dem Asphalt; als ob der Wind zeigen will, dass er noch lebt, zerrt er an einem Haarschopf auf seinem Hinterkopf. Ein ziemlich trauriger Ragdoll-Effekt. Doch so sehr sich der Wind auch anstrengt, Major Tom will sich nicht bewegen. May God's love be with you. Der Endboss ist bezwungen. Game Over.